Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 762

Sieben Briefe (1871—1877) Iwan S. Turgenjew’s anSophia Konst. Bryllow, geb. Kawelin (Korsakow, D.)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 762

Text

762 KORSAKOW.

nachhaltig erregt; dabei welche Harmonie des Inneren, welche Ein-
fachheit und Klarheit! Weder zurückhaltend, noch herausfordernd kann
man dieses Mädchen nennen, beide Worte besagen nicht das Richtige;
man fühlte vielmehr, dass da eine gute, ehrenhafte, im vornehmsten
Sinne gebildete Persönlichkeit vor Einem stand, der es Vergnügen machte,
sich auszusprechen. Es handelte sich um die Methode des Geschichts-
unterrichtes. Sophia Konstantinowna hatte unbedingt Recht mit dem,
was sie verfocht. Daneben entwickelte sie noch ungemein viel Grazie
bei den Stössen, die dem Gegner versetzt wurden — nicht nach
eleganter französischer Manier, voll Selbstüberschätzung; sondern russisch
gutmüthig, unschuldig und fast unbewusst «

Derart war das aussergewöhnliche Mädchen beschaffen, mit
welchem Turgenjew noch im selben Jahre (1871) eine Correspondenz
begann, die erst mit dem Tode der begabten Frau — sie hatte im
Mai 1873 geheiratet — ein Ende fand.

Von Turgenjew’s Briefen, die hier zum erstenmale in
Deutschland
veröffentlicht werden, sind leider nur im Ganzen
sieben erhalten; aber auch aus diesen wenigen geht zur Genüge hervor,
welchen Werth der grosse Dichter dem Urtheil des jungen Mädchens
selbst in Bezug auf seine Poesien beimass.

I.

Moskau, Pretschistenski-Boulevard, im Hause des Apanage-Comptoirs.
Sonnabend, 13. März 1871.

So, meine liebenswürdigste Sophia Konstantinowna, da wäre ich
in Moskau und fahre nicht etwa auf’s Land, denn ich habe mir den
Verwalter kommen lassen und hier Alles mit ihm abgemacht, sondern
reise nächsten Donnerstag oder Freitag fort; aber nicht nach Peters-
burg, sondern direct »dahin, wo keine Citronen blühen«, über Smolensk,
Wilna u. s. w. Es thut mir sehr leid, dass ich weder Sie, noch meine
anderen Petersburger Freunde sehen werde, aber, offen gesagt: ich
fürchte mich vor der Cholera; und schliesslich: »Ce qui est différé
n’est pas remis.« Jetzt bin ich in Unruhe Ihretwegen — hoffentlich
ohne Grund — und zu diesem unbehaglichen Gefühl würde dann
noch beträchtliche Besorgniss um die eigene Person hinzukommen
Nein; besser, ich komme ein anderesmal!

Moskau steht noch auf dem alten Fleck; in den Salons trifft
man überall dieselben Gesichter, nicht ein einziger neuer Typus, der
mir begegnet wäre. Wo man auch wandelt, überall riecht es nach
Thran und Lampenöl; ich bin kein Freund dieser slavischen Gerüche, und
Eines weiss ich ganz genau: in Moskau werde ich mir niemals ein
Nest bauen. Und nun vollends Petersburg mit seinem Klima!

Montag hatte man mich gepresst, einen Vortrag zu halten —
aber nur nicht für die Slavenbrüder! Für die, erklärte ich, würde
sich meine Zunge nicht bewegen, höchstens für einen wohlthätigen
Zweck. Da habe ich denn für die Garibaldianer gesprochen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 762, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0762.html)