Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 771
Die »Centenarfeier« des Grössten (Bleibtreu, Carl)
Text
Von Carl Bleibtreu (Wilmersdorf bei Berlin).
(Schluss.)
Wenn er in trotziger Jugend sich als freier armer Corse fühlte, so geschah
dies im Gegensatz zu den adeligen Lümmeln der Brienner Kriegsschule,
in jener Zeit, wo er an Selbstmord dachte. Später aber verbannte er
jede Erinnerung an seine gedrückte, einstige Lage in der Heimat und
sprach es unverhohlen aus: »Ich mag nichts zu schaffen haben mit
Corsica.« Daher auch sein bekannter Kniff, seinen Geburtstag (7. Jänner
1768, er hatte das Jänner-Temperament wie Byron, Schopenhauer,
Burns, Petöfi) in den 15. August 1769 umzudichten, damit er als
Franzose geboren sei. Der Kaiser der Franzosen liebte sein leicht-
füssiges Volk der Gloire und der Revolution, dieser beiden grossen
Elementarmächte des Völkerlebens, als einzig passendes Object seiner
Weltpläne. Wohl betonen die Napoleon-Hasser ganz treffend, dass er
kein Vaterland gekannt habe und Frankreich zuletzt nur eine Mutter-
zelle und eine Nummer Eins in der allgemeinen Völkergruppe des
grossen Reiches gebildet habe. Denn nicht zum Roi de France, sondern
zum Weltimperator war er geboren. Dennoch geht man fehl, ihm ein
lebhaftes französisches Nationalgefühl absprechen zu wollen. Wenn er
den Italiener hervorkehrte und in der Familie oft Italienisch sprach,
wie die auf ihre Sprache so eifersüchtigen Franzosen ihm vorwarfen,
wie kommt es dann, dass er weder Italienern, noch anderen Nationali-
täten seines Reiches je höhere Aemter einräumte? Und wenn er auch
klarstes, geniales Verständniss für die Bedürfnisse Italiens, Hollands,
der Schweiz bethätigte und ihnen politische Wohlthaten angedeihen
liess, so nahm er doch keinen Anstand, durch besondere Schutzzölle
deren Seiden- und Speditionshandel zu Gunsten Lyons und der französi-
schen Seehäfen zu unterbinden.
Indem wir aber Napoleons Zorneswort: »Ich habe das Recht,
mit einem beständigen Ich zu antworten, ich bin anders wie die
Andern, und ihre Gesetze sind für mich nicht da«, als vollberechtigt
bejahen, würden wir andrerseits an seiner Heldengrösse irre werden,
wenn nicht seiner incommensurablen Geisteshoheit sich auch hohe
ethische Kraft gepaart hätte. Denn wir kamen zu der Ueberzeugung,
dass Carlyle’s Heroencultus, der übrigens Napoleon »unseren besten
grossen Mann« nannte, in dieser Beziehung das Rechte trifft, dass
wirklich jedes echte Heldenthum ein erhabenes Menschenthum aus-
löse und dass die Schuld, wenn kein Held vor seinem Kammerdiener
besteht, nicht am Helden liegt! Weil wir aber kein Kammerdiener
sind, so wollen wir auch nicht verschweigen, dass unser Abgott eine
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 771, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0771.html)