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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 772

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772 BLEIBTREU.

schwache Zeit hatte, wo er die Nase zu hoch in die Sterne steckte
und deshalb über allerlei Schlingen strauchelte, die Zeit seines Cäsaren-
wahns 1810—1812.

Wenn wir den Ausdruck »Cäsarenwahnsinn« anwenden, so lässt
uns eben der Sprachgebrauch keine andere Wahl. Ein solcher »Wahn«
eines wirklich zum Weltimperator Geborenen muss aber streng unter-
schieden werden von der Gehirnverwirrung purpurgeborener Gross-
mannssucht, gerade so wie Napoleons Monarchenthum von dem der
»Könige Faulenzer« (roi fainéant), um seinen bezeichnenden Hohn zu
citiren. Dieser grosse Idealitätsmensch hatte einen »unausrottbaren Sinn
für Realitäten« (Carlyle). Nichts typischer als seine trockene Antwort
auf die Frage, ob er 1798 in Palästina nicht die heilige Stadt Jeru-
salem besuchen wolle: »Durchaus nicht, dieser Ort liegt nicht auf
meiner Operationslinie.« Man hat nun zwar behauptet, dass dieser Sinn
für Wirklichkeit in ihm zuletzt geschwunden und von Haschen nach Schein
ersetzt worden sei, verkennt jedoch, dass hiebei nur die latente Ideologie
seiner Prophetennatur sich Bahn brach. Man denkt unwillkürlich an
den Wunderglauben, wenn man ihn mit »Schicksal« und »Vorsehung«
feierlich wirthschaften hört. Nicht eine Art Geistesstörung ist es, wie
gütige Weise es auslegen, wenn er im Jänner 1814 auf Marmont’s
Frage, der »zu träumen meint, als er solche Dinge hört«, womit man
denn kämpfen wolle, gelassen erwiderte: »Mit dem Wenigen, was wir
bei uns haben.« Denn seine gänzliche Verachtung der Materie (»unmög-
lich? dies Wort ist nicht französisch«) hat ihm eine übertriebene
Meinung von der Allmacht geistiger Werthe eingeflösst. Und wenn
1812 Jemand von einer Unterredung den Eindruck mitnahm, als habe
er zwischen dem Pantheon und dem Irrenhaus gestanden, indem wieder
die alte fixe Alexander-Idee »Indien« auftauchte, so werden wir dieses
praktischen Riesenverstandes scheinbare Trübung doch tiefer, sozusagen
symbolisch, fassen müssen. Einem Schöpferdrang, dem Europa ein
Maulwurfshügel schien, bot die Welt kaum noch genügende Stoffe und
ausreichende Objecte, um sich daran auszutoben: er hätte logisch
damit enden müssen, den Mond erobern zu wollen. Normale Mittel-
mässigkeit mag solch faustischen, nie gestillten Thatendurst, solch ver-
zehrendes Schaffensfieber verrückt schelten. Aber rast nicht auch die
Natur mit Kometen und geologischen Erschütterungen, verfolgt sie
immer gemessen ihre einfache Bahn? Dass eine solche Ueberspannung
des genialen Menschen, die sich selbst als Gott fühlt und sich dem
All als souveränes Ich entgegenspreizt, im Dasein begründet liegt,
dafür fand schon die Bibel das »Eritis sicut deus« und die Fabel vom
Thurmbau zu Babel.

Die Hellenen erfanden die Prometheus-Mythe, und wahrlich nicht
zufällig drängte sich dem Napoleon-Mythos der Vergleich mit Prometheus
auf. So hat auch schon ein grosser unbekannter Dichter mit imperialen
Instincten, Shakespeare’s Vorläufer Marlowe, in seinem »Faust« und
»Tamerlan« Napoleon vorgeahnt; dieser Tamerlan lässt sich sterbend
die Landkarte kommen und vertheilt die Erde, dann aber ruft der nie

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 772, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0772.html)