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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 773

Text

DIE »CENTENARFEIER« DES GRÖSSTEN. 773

Besiegte dem Tode trotzend: »Auf, lasst uns marschiren gegen die
ewigen Götter!« Was wollen wir damit sagen? Dass Napoleon eine
völlig für sich alleinstehende, einzigartige Culmination menschlichen
Wollens und Könnens bedeutet, gleichsam die Erfüllung der Sehnsucht
nach dem Uebermenschen, soweit diese Phrase eine reale Bedeutung
haben kann, dass also jede kleinere Auffassung, jedes Vergleichen mit
anderen Menschengrössen nothwendig hinter der Wahrheit zurückbleibt.
Aber nicht den Mythos vom Halbgott muss man dabei bewahren wollen;
hiedurch entstanden alle jene Nörgeleien und Missverständnisse, die
einer fälschenden Anti-Legende Thür und Thor öffneten. Wer einen
vollkommenen Uebermenschen sucht, muss sich nothwendig enttäuscht
fühlen, wenn er auf Menschliches, allzu Menschliches stösst. Wir
sind alle nur Menschen mit menschlicher Nothdurft, aber es wäre
ein dreistes Unterfangen, die Belauerung solcher Nothdurfte triumphirend
dahin auszubeuten, dass der Riese eben auch nur einem Menschenzwerg
gleiche. Das sind die Schlacken des Individuums, aus denen sich auch
der Beste herausarbeiten muss, um Goethe über Byron zu citiren. Eine
kosmische Allseele wie Napoleon muss nothwendig alle Instincte der
Natur enthalten, also auch gewisse niedrige. Aber letztere bildeten nur
eine gleichgiltige Unterschicht, der wahre Napoleon, der Eigene, erhob
sich mächtig aus dem Dunstkreis des Gemeinen, das uns Alle bändigt.
Wir beharren dabei, dass ihm eine ganz exceptionelle Stellung in der
Menschengeschichte angewiesen werden müsse, dass Niemand ihm näher-
trete, der nicht ein unerforschliches Letztes, ein räthselhaftes Geheimniss
in ihm entdeckt. Davon hat sogar Taine einen Hauch verspürt, als er
daran ging, Napoleons Gehirnphänomen zu zergliedern. Er betont, dass
dies Ungeheuer Alles wusste, ohne es je gelernt zu haben. Von
wannen kam ihm diese Wissenschaft? Wir wissen’s nicht.

Man möge es auf Treu und Glauben hinnehmen, wenn wir bitten,
sich nicht durch allerlei Redensarten täuschen zu lassen, und als leidlich
sachverständig versichern, dass in der Kriegsgeschichte (leider identisch
mit Weltgeschichte) nichts, gar nichts seit ältesten Zeiten bis zu dieser
Stunde nicht nur an dramatisch-technischer Meisterschaft, sondern vor
Allem an Ideenschwung und Anschauungsfülle den entferntesten Ver-
gleich mit Napoleon gestattet. Genau das Nämliche dürfte aber für
alle Gebiete des Herrschens in Staatswesen und Gesellschaftsordnung
zutreffen. Die spielende Leichtigkeit, mit der seine unerhörte Arbeitslust
1800—1804 den ausgesogenen Boden Frankreichs düngte und aus
wirthschaftlichem Siechthum zu üppigster Fruchtbarkeit umackerte, hat
nirgendwo in der Weltgeschichte ein Gleichniss. Was er heranzog zum
Wiederaufbau, Juristen, Financiers, Postdirectoren, Industrielle, Archi-
tekten, römische Hierarchen, Alles stand »einfach starr vor Bewunderung«:
er wusste Alles besser als sie. Diplomaten und Politiker hatten das
schon früher erfahren. Jeder Ausländer begriff bald, dass der kleine
Insulaner aus weltentrückter Scholle den Mechanismus jedes beliebigen
Landes viel genauer durchschaue, als die ererbteste traditionelle Staats-
weisheit und die gelehrtesten Studien es je vermochten. Die Schweizer

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 773, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0773.html)