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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 774

Text

774 BLEIBTREU.

Deputation hörte mit offenem Munde zu, als ihr »Vermittler« aus dem
Stegreif eine Vorlesung über Cantönlibünde hielt, die heut’ noch Curti
in seiner Geschichte der Schweizer Demokratie als classisch abdruckt.
Woher kam dies Alles? Aus der »Fähigkeit, die ich an Ihnen bemerkte,
klarer als Alle, obschon viel schneller zu sehen«, wie der Civilcommissär
dem jungen General 1797 schrieb, aus der blitzartigen deductiven
Divination, Auch seine gewaltige autodidaktische Geschichtskenntniss war
mehr philosophischer Extract als pragmatisches Wissen. Bei ihm ver-
schmolzen mit fabelhafter Schnelle Analyse und Conclusion, Induction
und Deduction: sah er ein Ding an, so hatte er sofort dessen innersten
Nerv, gleichsam die ewige Idee dieses Dings gepackt. Freilich bleibt
noch ein Ungelöstes zurück, ein Etwas, das den düstern Jungen auf
der Schule mit dem starren Imperatorblick ruhig decretiren liess; »Ich
weiss das schon
«, wenn sein verwirrter Abbe ihn belehren oder
katechisiren wollte. (Colonel Jung: »Jeunesse de Bonaparte«.) Auf dem
dunkelrothen schlichten Porphyrsarg im Invalidendom, wo man mit ehr-
furchtsvollem Schauern des grössten Sterblichen Asche sich nahe fühlt,
steht kein Name, nur ein Kranz von Schlachten; warum nicht auch
seine zahllosen Friedenswerke? Wohin er seine Hand legte, auf den
Côde wie auf den Mont Cenis, war’s für die Ewigkeit, monumental.
Alpen, Meer, Wüste — nur sie sind seinesgleichen, die Menschheit
verschwindet in den Hintergrund.

Wir können von unserer Aufgabe nicht scheiden, ohne nochmals
die scheinbaren Widersprüche zusammenzufassen, die sich aus unserer
Auffassung und den Vorwürfen der Gegner ergeben würden. Der
preussische General Wille hat ein Pamphlet »Napoleonische Bulletins«
gestiftet, worin Napoleons Verlogenheit und Brutalität gebrandmarkt
werden soll. Gelogen wie ein Bulletin? Kann man denn immer die
Wahrheit sagen? Hatte der Feldherr z. B. nicht Recht, wenn er fort-
während seine eigene Truppenzahl übertrieb? Die ganze Befangenheit
seiner Verleumder aber zeigt sich darin, dass sie gerade in diesem
einen Punkte hartnäckig Napoleon Glauben schenken, um hiedurch die
Mythe von seiner Uebermacht aufrecht zu erhalten. Und doch wies
Lettow-Vorbeck nach, dass Napoleon 1806 thatsächlich nur 170.000
Mann gegen 210.000 Preussen ins Feld führte. Wille zetert darüber,
dass der Kaiser in einem Tagesbefehl dem Dragoner-Divisionär Klein
»extrême simplicité (Einfalt)« vorwarf, weil er an Blücher’s Vorspiege-
lung eines Waffenstillstandes glaubte; wie aber nennt Oberst v. Lettow-
Vorbeck diese »Brutalität« Napoleons? »Entschieden gerechtfertigt«, und
jeder Unbefangene wird beipflichten. Wir geben zu, dass sich in einem
der Bulletins von 1806 ein Zug findet, der nach schamloser
Heuchelei schmeckt. Der Kaiser plaudert nämlich romanhaft von seiner
Grossmuth gegen eine Französin, die er bei Gewitterregen zufällig in
einem Jägerhause findet, und verbrämt diese unpassende Anekdote, die
man leicht genug als ein gemeines Liebesabenteuer ausdeuten könnte,
mit der grossartigen Tirade: »Als der Kaiser vom Pferde stieg, hatte
er die Vorahnung einer guten Handlung!!« Allein, wenn wir wirklich

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 774, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0774.html)