Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 763

Sieben Briefe (1871—1877) Iwan S. Turgenjew’s anSophia Konst. Bryllow, geb. Kawelin (Korsakow, D.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 763

Text

SIEBEN BRIEFE IWAN S. TURGENJEWS. 763

In Moskau bin ich im Ganzen vier Tage; und schon zweimal
habe ich von 8 Uhr Abends bis 3 Uhr Morgens, bis mir die Zunge
im Halse klebte, die Zukunft Russlands und des Slaventhums bestimmt,
oder vielmehr, ich habe nicht verstehen können, wie Andre sie be-
stimmen wollten. Da wurde geredet und geredet, bis Einem die Ohren
klangen und der Schädel brummte Folglich war Alles in Ordnung.

Nun also, leben Sie wohl, mögen Sie blühen und gedeihen.
Grüssen Sie Papa und Mama herzlich von mir und schreiben Sie mal
ein Wörtchen

Ihrem Freunde Iw. Turgenjew .

II.

London, 30 Devonshire place, Portland place.
Freitag 14. (2.) April 1871.

Liebenswürdige Sophia Konstantinowna! Sie sollen mich nicht
immer schelten: ich schelte Sie auch einmal! Was? Sie wollen ein
ordentliches Menschenkind, eine Lehrerin sein und setzen weder Datum
noch Adresse auf Ihren Brief?!! Was soll ich jetzt machen? Ich greife
mit beiden Händen nach dem Kopf, spanne alle Fasern des Gehirns
an und rufe endlich: in derselben Reihe wie Ge. — und Ge. wohnt
siebente! Schön. Nun aber die Nummer, die Nummer! 36? Nein;
das ist Herr Pietsch in Berlin, der Nr. 36 wohnt. 48? Nein; wenn es
48 wäre, würde mir die Nummer jetzt einfallen; sie hätte sich in
meinem Kopfe irgendwie mit der französischen Revolution associirt,
deren incommunistische Principien Sie theilen. Nicht 48? Welche denn?
Mein Gedächtniss flüstert mir zitternd zu: 60. Ich glaube wirklich, es
ist 60. 1) Und wenn nicht — soll dieser Brief verloren gehen? Und
Sie denken, ich sei ein unhöflicher Cavalier, der Liebenswürdigkeiten
einer Dame nicht zu schätzen weiss? Wozu nur diese ganze Tortur
und unnütze Vergeudung von Zeit (die ich allerdings anders gar nicht
hätte verwenden können)! — Aber Gerechtigkeit geht allen Dingen
vor. Also wasche ich meine Hände feierlich in Unschuld, und Sie
setzen fortan als Lehrerin und genaue Correspondentin stets Jahres-
zahl, Datum, Monat, Wochentag, vielleicht auch Tagesstunde, Stadt,
Strasse und Haus auf Ihre Briefe. Dann ist Alles in Ordnung, und
Sie haben ein Recht auf noch grössere Gerechtigkeit, als welche die
Commune zu besitzen glaubt. (Letzte Phrase klingt beinahe wie eine
Uebersetzung aus dem lateinischen Schriftsteller Tacitus — ist sie aber
durchaus nicht!)

Doch ich mache die Beobachtung, dass die Hälfte meines Brief-
bogens bereits auf Explicationen draufgegangen ist, und will mich
daher fortan lakonischer Kürze zu befleissigen suchen, eingedenk jenes
Tacitus und Michael Pogodin. 2)


1) Konstantin Dmitr. Kawelin, Sophias Vater, wohnte damals in St. Peters-
burg: Wassil. Ostrowa, 7. Reihe, Nr. 60, Haus Kostizyn.

2) Der Historiker M. P. Pogodin ( 1873). Sein Styl ist knapp, aphoristisch.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 763, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0763.html)