Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 764

Sieben Briefe (1871—1877) Iwan S. Turgenjew’s anSophia Konst. Bryllow, geb. Kawelin (Korsakow, D.)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 764

Text

764 KORSAKOW.

Zehn Tage in Moskau. Ganz nett, aber nicht ohne Unpässlich-
keit, Hangen und Bangen. Cholerafurcht machte mir vorübergehend
zu schaffen. Genesen, litt es mich nicht in Petersburg, Stadt wurde im
Eisentopf1) durchflogen; that mir leid, aber machte mich nicht
wankend. Auf der Fahrt nach Berlin Betrachtungen über Moskau;
viel Tugend, aber Weiber reichlich hässlich. Diese Glocken in Praga!2)
Sehen aus wie dicke Birnen, welche die Fürstin Tscherkasski vom Baume
der Erkenntniss des Guten und Bösen pflückt. Viel Thätigkeit — von
Dank keine Spur. In Berlin — Erholung. Die Deutschen haben sich
herausgemacht bis zur Unanständigkeit: stützen den Himmel auf Helme,
möchten auf Erden gern Böhmen haben — beehren Andere mit ihrer
Verachtung, uns, aus Freundschaft und Verwandtschaft, am allermeisten.
Nach Erholung: Fortsetzung der Reise. Unglaublich viel schwarze
Kreuze mit weissen Rändern — dicke Backen der Landwehrmänner
erstaunlich — künstliches Lächeln der französischen Gefangenen er-
innert an das Lächeln geprügelter Lakaien; sonst Jammer und Elend,
schmutzige Kleidung. Nachdem der Meeresgrund überschifft, schlug ich
Quartier in London auf und traf zur grössten Freude alle Freunde
wohl und munter; wurde selbst aber unverzüglich krank und legte
mich zu Bett — schlief zwei Nächte lang gar nicht und stöhnte umso-
mehr. Heute stand ich von den Folterbrettern auf, fühlte mich gesund,
nahm die Feder zur Hand und schrieb gegenwärtigen Brief. Sonst
habe ich nichts zu Stande gebracht, und es scheint auch gar kein
Bedürfniss vorhanden; man reisst die Augen auf nach Paris und Frank-
reich. Das ist Alles. Was aber später aus mir Sünder wird, wo ich
leben werde, wie, wovon, wozu, wodurch — cur quomodo quando —
das weiss ich nicht und will ich gar nicht wissen.

Ueber welches Alles ich ausführlich berichtet habe und mich
jetzo tief verneige.

Wenn es Ihnen gerade einfällt, schreiben Sie mal; erzählen von
sich und Ihren Eltern, die ich herzlichst grüsse. Ihnen aber drücke
ich kräftig beide Hände und wünsche Ihnen alles Gute.

Ihr Iw. Turgenjew .

III.

Paris, Rue de Douai 48, 12. December (30. November) 1871.

Der Himmel bläulich-weiss wie abgerahmte Milch, die Strassen
erfüllt von weiss-grauem Schnee nach Art des Petersburger »Streu-
sandes«, im Zimmer 9 Grad — das Herz so schwer. Die Nasenspitze
roth, die Finger klamm, halten kaum die Feder. Und da soll man
Briefe schreiben? Thorheit? Aber ein Menschenherz steckt voller
Widersprüche, und ich möchte gerade jetzt ein wenig mit Ihnen plaudern,
liebe, junge Freundin! Das heisst, eigentlich möchte ich von Ihnen
erfahren, dass Sie leben und gesund sind, Ihre Eltern desgleichen, dass
Ihr Herz wie früher von Liebe zur Wissenschaft brennt und sich noch


1) Populär für Eisenbahn.

2) Vorstadt von Warschau.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 764, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0764.html)