Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 765
Sieben Briefe (1871—1877) Iwan S. Turgenjew’s anSophia Konst. Bryllow, geb. Kawelin (Korsakow, D.)
Text
keinen anderen Altar errichtet hat — namentlich keinen mit einer
weniger heiligen Flamme! Wenn also Alles gut steht, geben Sie mir
Nachricht, und wenn sich etwas angesponnen hat, geben Sie mir
trotzdem Nachricht. Es wird mir sehr angenehm sein — nicht dass
sich etwas angesponnen hat, sondern dass ich auf diese Weise etwas
von Ihrem Leben und Treiben erfahre. Also ich hoffe, Sie antworten!
Unterricht ertheilen Sie doch noch wie früher?
Ich bin inzwischen nach Paris übergesiedelt, nachdem ich Baden-
Baden und Deutschland Lebewohl gesagt. Hier habe ich noch Nie-
manden gesehen — habe bald an Podagra gelitten, bald eine grössere
Novelle vollendet, die an den »Boten Europas« abgesandt ist und in
der Jännernummer erscheinen wird.1) Ich trage Bedenken, sie Ihnen
zu empfehlen: ich wollte die Sittlichkeit preisen, und nun ist es zu
meinem Schrecken so gekommen, dass die Unsittlichkeit triumphirt!
Mein Unglück Schon besser, Sie lesen sie nicht.
Wir befinden uns hier in sonderbarer Lage; von Thiers an verab-
scheut fast Alles die Republik — aber wie sie abschaffen, das weiss
Niemand. Es endet wieder mit irgend einem coup d’état, diesesmal
zu Gunsten der Orléanisten. Einstweilen ist hier noch Alles schwarz
und das Leben nicht besonders lustig.
Ende Jänner werde ich mich sicher in Petersburg präsentiren.
Dann ist jedenfalls keine Cholera.
Jetzt viele Grüsse an Ihre Eltern und einen kräftigen Händedruck
für Sie.
Ihr ergebener Iw. Turgenjew .
IV.Paris 48, rue de Douai. Sonntag, (16.) 28. Jänner 1872.
Liebenswürdigste Sophia Konstantinowna, ich antworte unverzüg-
lich auf Ihren Brief. Zuerst muss ich Ihnen mittheilen, dass ich nach
Mai keinen Brief mehr in London von Ihnen erhalten habe. (NB. Un-
regelmässiger als England bestellt kein Land auf Erden seine Post!)
Auf den einzigen Brief von Ihnen habe ich sofort geantwortet. Sodann
bin ich Ihnen nicht nur nicht böse wegen Ihrer Bemerkungen über
meine Novelle,2) sondern danke Ihnen im Gegentheil für Ihre Offen-
heit; übrigens hatte ich, wie ich Sie kenne, gar nichts Anderes von
Ihnen erwartet. Ich sage Ihnen ohne Umschweife, dass ich vollständig
Ihrer Meinung bin und eine Art Abneigung gegen mein eigenes Geistes-
kind empfinde. Diese hat sich allmälig in mir entwickelt, und Ihr
Brief hat zum Anfang das Ende gefügt. Wenn ich nur irgend Jemandem
die Arbeit vor dem Druck laut vorgelesen hätte — das Ende wäre
jedenfalls von mir umgearbeitet worden, Herrn Sanin hätte ich alsbald
von Frau Polosoff fortlaufen lassen, sich noch einmal mit Dshenna
treffen, die ihm einen Korb gegeben hätte u. s. w.
1) Turgenjew’s Novelle »Frühlingswasser« im »Wjestn. Jewrop.« 1872.
Jänner.
2) »Frühlingswasser.«
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 765, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0765.html)