Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 766
Sieben Briefe (1871—1877) Iwan S. Turgenjew’s anSophia Konst. Bryllow, geb. Kawelin (Korsakow, D.)
Text
Jetzt ist das Alles ins Wasser gefallen, und ich kümmere mich
nicht mehr um meine Missgeburt. Ich weiss nicht, ob ich noch etwas
schreiben werde, aber von den Personen, wegen der Sie mich mit
Recht tadeln, habe ich auf ewig Abschied genommen. Da sehen Sie,
was ich für ein Herrchen bin.
Sie schreiben mir nichts über Ihre Eltern; ich vermuthe, dass
dieselben sich wohl befinden. Den Artikel Ihres Vaters im »W. Je.«
habe ich noch nicht gelesen.1) Es macht mir Freude, dass Sie fort-
fahren, für die Aufklärung in unserem Vaterlande zu kämpfen — und
dann, dass Sie bis jetzt noch ein freies Vögelchen sind. Das Eine
passt schlecht zum Anderen. Uebrigens sind Sie wie geschaffen, die
heterogensten Dinge mit einander zu vereinen und ihre Zusammen-
gehörigkeit durch die That zu beweisen.
Anfang März sehen wir uns, so Gott will, wieder; bis dahin
danke ich Ihnen nochmals und drücke Ihnen kräftig die Hand.
Ihr ergebener I. T.
P. S. Grüssen Sie Alle, auch Darja Iwanowna.2) Diesesmal haben
Sie nicht nur keine Adresse angegeben, sondern sogar Ihren Namen
vergessen! Gut, dass ich Ihre Handschrift kenne.
Paris 48, rue de Douai. Montag, 14. (2.) October 1872.
Also Sie befinden sich im Stadium des Menschenhasses, der die
Folge eines langen Aufenthaltes auf dem Lande, der allgemeinen
Lebenseinrichtungen im heiligen Russland u. s. w. ist. Das will schon
etwas sagen! Aber nun nehmen Sie erst jenen Menschenhass, welcher
durch fünf Monate andauerndes, ununterbrochenes Podagra entsteht —
alle Achtung! J’en sais quelque chose — weil ich mich gerade in
seinen Klauen befinde und überhaupt nicht weiss, wann es aufhört.
Dieser ist ein Vorläufer des Alters, der Hässlichkeit und körperlicher
Auflösung: jenen nenne ich, was Sie auch sagen mögen, das Schwung-
brett der Hoffnung und Jugend. Nun werden Sie mich wieder des
Kleinmuthes zeihen, wie bei der Cholera, aber ich möchte wohl sehen,
was Sie sagen würden, wenn — hoffentlich passirt das nie — wenn,
eines Ihrer Knie, wie bei allen Menschen, so wäre3) und das andere
so! Dazu dann noch Nächte langes Zähneknirschen, keine Möglichkeit
zu gehen u. s. w. Da vergisst man selbst Bismarck — und der Schmerz
der Elsässer erscheint einem als purer Blödsinn.
Doch der Gedanke, die Moderluft des Westens zu athmen, ist zu
schön — Sie werden sich bemühen, ihn nächstes Jahr zu verwirklichen.
1) »Aufgaben der Psychologie« von K. D. Kawelin im Jänner-Heft ff. d.
»Wjestn. Jewrop.« 1872.
2) Eine alte, adelige Dame aus dem Hause N. N. Tjutschew’s, des lang-
jährigen Freundes Turgenjew’s.
3) An dieser Stelle sind zwei Knie gezeichnet: ein normales, das andere
geschwollen und gekrümmt.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 766, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0766.html)