Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 767
Sieben Briefe (1871—1877) Iwan S. Turgenjew’s anSophia Konst. Bryllow, geb. Kawelin (Korsakow, D.)
Text
Selbst vom Standpunkte einer Docentin, einer Gelehrten ist das un-
umgänglich nothwendig. Mit doppeltem Eifer werden Sie hinterher für
die dicke, schlappe Kaufmannsfrau arbeiten, so da Russland heisst. Es
ärgert mich, dass ich nichts habe thun können, um die Bekanntschaft
der Deutschen mit dem Werke Ihres Herrn Vaters1) anzubahnen —
aber ich hatte von Anfang an wenig Hoffnung auf Erfolg. Der Sinn
steht ihnen nicht danach; sie müssen den Katholicismus bekämpfen
und ersticken — davor tritt alles Andere in den Hintergrund.
Frankreich aber pilgert nach Lourdes und à la Salette. Das ist
nicht weiter von Bedeutung; die Republik ist ohne Frage gesichert
und das genügt.
Schreiben Sie mir Ihr Urtheil über »Das Ende Tschortopchanow’s«,2)
aber lesen Sie die Arbeit, bitte, ohne Vorurtheil, d. h. ohne Einge-
nommenheit zu meinen Gunsten, vielmehr strenge und objectiv. Die
Fortsetzungen sind grösstentheils misslungen — vielleicht habe ich
ganz umsonst den Geist Tschortopchanow’s beunruhigt. Wenn nur nicht
das abscheuliche Podagra wäre; in meinem Kopfe regt sich etwas —
doch Alles umsonst.
Sie zweifeln ohne Grund an meiner Ankunft; ich hatte und habe
wirklich die Absicht, im Winter nach Petersburg zu reisen; aber mein
Leiden nimmt mir jede Möglichkeit, irgend welche Pläne zu entwerfen.
Also was kommt, das kommt. Jedenfalls bleibe ich bis Ende des
Jahres hier.
Es heisst, Perow stellt in Petersburg Porträts von Dostojewski,
Maikow, Pogodin und mir aus. Sehen Sie sich die Bilder an — sie
sind alle sehr schön — namentlich Dostojewski’s.
Was gibt es für authentische Nachrichten von Katkow? Hier
wird versichert, er habe den Verstand verloren. Ich werde ihm keine
Thräne nachweinen.
Schreiben Sie mir, wann Sie Lust haben; ich antworte immer
präcise. Grüssen Sie Ihre Eltern von mir; Ihnen drücke ich kräftig die
Hand und wünsche Ihnen allen Erfolg.
Ihr Iw. Turgenjew .
VI.Paris 48, rue de Douai. Donnerstag, 2. Jan. 1873 (21. Dec. 1872).
Liebenswürdigste Sophia Konstantinowna, Ihren Brief habe ich
empfangen und mit grossem Vergnügen gelesen; ich beantworte ihn
Punkt für Punkt:
a) Vor allen Dingen gratulire ich Ihren Eltern und Ihnen zum
neuen Jahr und wünsche Ihnen alles Gute, von der Gesundheit an.
b) Ihr Urtheil über Tschortopchanow ist vollständig richtig, und
das Hinweisen auf die schwachen Stellen verräth Ihren feinen kritischen
1) Kawelin hatte Turgenjew gebeten, womöglich eine deutsche Ausgabe
seiner »Aufgaben der Psychologie« in Berlin zu veranlassen. Siehe Turgenjew’s
Brief an K. D. Kawelin vom 7. September
(26. August) 1872.
2) Erzählung Turgenjew’s, deren Anfang im »Wjestn. Jewrop.« 1872, No-
vember, erschien.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 767, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0767.html)