Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 768
Sieben Briefe (1871—1877) Iwan S. Turgenjew’s anSophia Konst. Bryllow, geb. Kawelin (Korsakow, D.)
Text
Verstand; ich selbst fühle und weiss, dass ich etwas Compacteres und
Zeitgemässeres schaffen muss, und theile Ihnen sogar mit, dass ich
Sujet und Plan eines Romanes fertig habe — denn ich glaube nicht
daran, dass die Typen in unserem Zeitalter ausgestorben sind, und
man sie nicht mehr beschreiben soll — aber von den zwanzig Wesen,
die mein Personal bilden, sind zwei nicht an Ort und Stelle studirt,
nicht aus dem Leben genommen; und »erfinden« im bekannten Sinne
will ich nicht. Es ist auch gar kein Nutzen dabei, denn schliesslich
betrügt man doch Niemanden. Also muss man Material sammeln. Und dazu
muss man in Russland leben. »Aber warum leben Sie nicht in Russ-
land?« so ungefähr fragen Sie auch in Ihrem Briefe. Darauf erwidere
ich: Das ist gerade das fatale in meinem Leben, dass ich so wenig
im Stande bin, mich zu ändern — wie die Form meiner Nase. »Un-
sinn!« rufen Sie aus, »so jung und muthig, wie Sie sind!« aber da Sie
selbst von Beruf Historiker sind, so appellire ich an Ihr historisches
Gefühl (Sie beschäftigen sich wohl gerade mit den polnischen Wirren)
und bitte Sie, ein wenig nachzudenken, bevor Sie dieses Wort »Unsinn«
wiederholen. Vielleicht wiederholen Sie es dann nicht.
Aus alledem folgt, dass ich mich bemühen muss, meinem Kummer
durch wenigstens zeitweiligen Aufenthalt in Russland zu helfen, was ich
in der That beabsichtige. Aber werden diese flüchtigen Besuche ge-
nügen? Darüber muss mein Schriftstellergewissen entscheiden. Wenn
ja, schreibe ich meinen Roman; wenn nein, dann Amen! Ein Anderer
wird kommen und das erfüllen, was mir im Bewusstsein schlummert,
wahrscheinlich weit besser als ich. Denn schon Goethe hat gesagt:
»Selbst dem grossen Talent drängt sich ein grösseres nach.«
Und mich zu den grossen Talenten rechnen, kann nur freund-
schaftliche Ueberschwänglichkeit.
Dixi et animam meam salvavi.
c) Es thut mir leid, dass Sie Perow’s Porträts noch nicht gesehen
haben, einige (namentlich Dostojewski’s, der mich im »Russischen
Boten« so aristophanesisch unter die Teufel versetzt) sind ausgezeichnet.
Antokolski’s »Peter«, den ich in einer grossen Photographie gesehen
habe, ist vollständig misslungen und gleicht einem Brandmajor. Die
Lawrowski ist hier und hat schon 20 Stunden bei Mme. Viardot
genommen. Ich sehe sie selten; sie ist ein sehr liebes, einfaches und
bescheidenes Kind. Ihren Enthusiasmus über sie theile ich nicht. Ihre
Stimme ist sympathisch, aber schon ein wenig abgenutzt und nicht
ganz rein; unbewusstes poetisches Empfinden ist vorhanden, aber das
künstlerische, scenisch-theatralische, dramatische — oder wie Sie es
nennen wollen — Element ist schwach und hat keine Physiognomie.
Nennen Sie mich meinetwegen einen Cyniker, ich sage, sie ist ein zu
gutes Weib, um eine grosse Künstlerin sein zu können; erst Trübung
gibt dem Lichte Farbe, und sie ist überaus hell.
In Paris geht Alles seinen Gang. Die Republik wurzelt im Volke,
aber die ganze Regierung (Thiers nicht ausgenommen) ist gegen sie,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 768, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0768.html)