Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 769
Sieben Briefe (1871—1877) Iwan S. Turgenjew’s anSophia Konst. Bryllow, geb. Kawelin (Korsakow, D.)
Text
und da die Regierung augenblicklich in Frankreich grosse Macht be-
sitzt, kann sie jene leicht wie einen Handschuh wechseln, allerdings
nur auf Zeit; doch davon wird nichts besser. Vergessen Sie nicht,
dass nirgends in der Welt der Clerus so mächtig ist, wie hier, und
dann combiniren Sie.
Mein Knie ist vom Podagra endgiltig gekrümmt, ich habe mich
damit ausgesöhnt, natürlich ist mir das schwer geworden. Nicht nur
von der Jagd und den Spaziergängen war Abschied zu nehmen. Mein
Trost besteht darin, dass ich mir sage, ich hätte ebensogut erblinden
können, und dann? Leben Sie wohl. Ich drücke Ihnen die Hand
Ihr Iw. Turgenjew .
P. S. Wissen Sie vielleicht in deutscher oder englischer Sprache
eine Monographie über die Regierung Kaiser Pauls? Wenn ja, so theilen
Sie mir bitte schnell den Titel mit; Michelet bittet mich darum.
Eine Adresse haben Sie wieder nicht angegeben! Ich habe über
eine halbe Stunde in alten Briefen suchen müssen und sie dann, Gott
sei Dank, gefunden.
50, rue de Douai, Paris. Dienstag, 16. (4.) Jänner 1877.
Liebe Sophia Konstantinowna, ich habe es immer verschoben, auf
Ihren liebenswürdigen, verständigen Brief zu antworten, weil ich mich
nicht auf ein paar Worte des Dankes u. s. w. beschränken wollte; aber
ich fand keine Zeit. Noch länger zu zögern, wäre indessen unverzeihlich,
und deswegen ist hier — tout chaud, tout bouillant — was ich zu
sagen habe.
Vor allen Dingen hat mir Ihr Brief grosse Freude gemacht; nach
dem Schreiben Ihres Vaters war er mir ein Unterpfand dafür, dass
ich mich nicht ganz geirrt habe, und dass das von mir Geschriebene
Existenzberechtigung hat.1) Nach allen Bedenken, welche Andere ge-
äussert haben, besonders aber nach den eigenen Zweifeln und Be-
denken — bedeutet das wirklich für mich grosse Freude. Es handelt
sich hier nicht um literarische Eigenliebe, die in mir niemals sehr
stark entwickelt war, sondern um ein anderes, ernsteres Gefühl; folg-
lich werden Sie begreifen, wie angenehm mir Ihr, gerade Ihr Urtheil
war. Jetzt wird das Publicum sprechen; ich verhalte mich nicht gleich-
giltig dagegen, aber meine Meinung steht bereits fest.
In dem Briefe an Konstantin Dmitriewitsch habe ich den Grund
angegeben, der mich veranlasst hat, geradeso, wie ich es gethan, das
Volkselement in »Neuland« darzustellen; übrigens habe ich unter dem
Einfluss Ihrer Worte zwei, drei ergänzende Züge hinzugefügt.
1) Von Turgenjew’s Roman »Neuland« ist die Rede. Turgenjew’s Antwort auf
K. D. Kawelin’s Brief über den Roman enthält die Stelle: »Grüssen Sie Ihre
Tochter von mir, und sagen Sie ihr, dass ihr Beifall die schönste Perle in der
Krone bedeutet, welche Sie mir aufsetzen.« Etwas allegorisch gesagt, aber voll-
kommen aufrichtig.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 769, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0769.html)