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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 779

Text

DIE »CENTENARFEIER« DES GRÖSSTEN. 779

ladet sich selbst in diesen vertraulichen Waschzetteln brutaler Sultanswirthschaft.
Wir haben schon betont, dass man die Epoche des »Cäsarenwahnsinns«, 1809
bis 1812, niemals zum Maasstab der ganzen Napoleon-Natur nehmen dürfe, und die
schlimmsten Ausbrüche des Jehovah-Grollens kommen nur in den Briefen vor, die
aus dieser Zeit datirt sind. Sehr richtig erkennt man im Rasen, das jeden Wider-
stand zerbrechen will, geheime Furcht. Es ist aber noch etwas Anderes, wir gehen
weiter: Hier steckt eine ahnungsvolle Verzweiflung der Erkenntniss, dass dieses
Jahrhundert »seinem Ideal nicht reif«, dass sein Traum universalen Genie-Kaiser-
thums an der menschlichen »Dummheit« und »Canaille« scheitern müsse, dass er
selber im besten Grunde ein Ideologe sei, der nicht mit der Realität rechne. In
diesem wilden Zorn ohnmächtigen Ringens mit der Materie erscheint ihm jede
Widersetzlichkeit der Menschheit gegen seine terroristische Hinpeitschung zu
grossen Zielen ein Verbrechen, eine Sünde wider den heiligen Geist, die man
nicht vergeben kann. »Canaille«, das Wort fliegt nur so nach allen Windrichtungen,
aber man vergesse nicht, dass er sein Leben lang mit wirklichen »Canaillen« der
höheren Stände zu schaffen hatte, dass nach seinem Standpunkt sowohl die Idealisten
als die ungeschickten Realisten »Dummköpfe« waren. Er tobt, er flucht, er ist
eben Corse. Das ist Alles schlimmer gesagt als gemeint, wo es sich um thatsäch-
liche Gewaltacte handelt. Dass er aber Ordnung haben wollte, kann ihm Niemand
verübeln. O, wenn man die Briefe vergötterter »christlicher« Cäsaren oder Bis-
märckischer Gewaltmenschen veröffentlichen wollte, worin sie ihre politischen und
persönlichen Feinde beschimpfen, bedrohen, vernichten wollen! Es geschieht nur
mit mehr affectirter Würde, während das ungenirte Genie sich in Hemdärmeln
zeigt. Es gehört eine seltene Heuchelei dazu, wenn man in Ländern, in denen
Polizeiwillkür täglich wunderliche Blasen treibt, sich über die Napoleonische
Polizei entrüstet. Was glaubt man wohl, was passiren würde, wenn anderswo ein
Präfect (in Emden) von meuternden Matrosen geprügelt wird? Würde man sie
etwa nicht auf die Galeeren schicken? In Wien werden 1809 Leute erschossen,
bei denen man vergrabene Kanonenrohre findet oder die französischen Officieren
den Säbel zerbrochen vor die Füsse warfen.

Was soll der Lärm? Das ist Kriegsgesetz, ebenso wie die Erschiessung Palm’s,
und würde wohl heute noch, jedenfalls aber in jener rauheren Zeit, von jeder
Staatsgewalt verübt werden. Haben wir nicht in zwei hochcivilisirten Ländern
erlebt, dass Officiere mitten im Frieden mit blutigem Säbel auf harmlose Civilisten
losschlugen und dafür minimale Strafe erhielten? Ist das nicht tausendmal bar-
barischer? O ihr Heuchler! Dass Napoleon seinem Polizeiminister den Kopf
wäscht, weil er die todfeindliche Staël in Paris duldet, soll despotisch sein? Wie
stimmt diese Auffassung zu den zahllosen Ausweisungen armer Arbeiter, von
Weib und Kind weg, »auf Grund des Socialistengesetzes«, zu den schandbaren
Einkerkerungen Unschuldiger à la Essener Meineidsprocess? Nun, wir selbst haben
in einer Novelle: »Das Geheimniss von Wagram«, das Gerücht als Thatsache
genommen, dass Napoleon den Oberst Oudet, das Haupt der Philadelphen, nach
der Schlacht von Wagram durch Hinterhalt französischer Grenadiere habe »aus
Versehen« erschiessen lassen. Warum nicht? Trachtete ihm Oudet nicht nach-
weislich nach dem Leben, frass sein Geheimbund nicht die Disciplin der Armee
an? Es war Vollstreckung eines kriegsgerichtlich begründeten Urtheils ohne
Formalien, voilà tout. Nur mit dem höchst bezeichnenden Nebenvorgang, dass
Napoleon, seine Pflicht als Belohner jedes Verdienstes auch hier erfüllend, seinen
Todfeind noch rasch vorher auf dem Schlachtfeld wegen militärischen Verdienstes
in der Schlacht zum General ernannte! Just so, wie er seinem Todfeind
St. Cyr, dem grössenwahnsinnigen Neidling, nach dessen erstem wirklichen Erfolg
bei Polotzk den Marschallsstab sandte. Aus den soeben erschienenen Memoiren
von Norvins ersehen wir, wie wenig Napoleon sich so wie andere Herrscher von
Schmeichelei und persönlicher Anbetung bestechen liess. Norvins, für den trotzdem
sein Idol immer das gleiche blieb — denn es sind immer die Anständigsten
gewesen, die ihre Begeisterung für den Geniekaiser treu bewahrten — vermochte
trotz seiner byzantinischen Schwärmerei nie einen grösseren Wirkungskreis zu
gewinnen, unbeschadet seiner glänzenden Connexionen, weil Napoleon ihn eben
dafür nicht passend hielt.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 779, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0779.html)