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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 778

Text

778 BLEIBTREU.

pressten Herzen Friedrich Wilhelms III. der Angstruf entrang: »Um
das Unglück voll zu machen, muss ich auch noch den Jacobiner spielen!«
Wilhelm der »Grosse« aber, der übrigens viel bedeutender war, als die
begreifliche Reaction gegen seine Ueberschätzung Wort haben will,
schrieb als Prinz von Preussen an Natzmer klagend, die Welt werde
immer demokratischer, nichts habe es gefruchtet, dass man 1813—1815
die Revolution zu Boden warf!! Brauchen wir weiter Zeugniss?
Von deinen Feinden erfahre du, wer du bist: den Fürstenfeinden Na-
poleons galten die sogenannten »Befreiungskriege« der Kosaken, für
die ja freilich schon Platen das richtige Wort fand, als Kriege gegen die
Revolution, die ihnen vollkommen identisch mit Napoleon! Lernet
nachdenken, ihr kleinlichen Modernen mit eurer öden Anti-Napoleon-
Legende, lernet nachdenken! Geht in euch und begreift, was euch der
Riese gewesen ist!

Unsere Napoleon-Apotheose hat gar nichts gemein mit dem naiven
Rausche der Legende, sie beruht auf unausgesetzter Prüfung und Be-
trachtung, die sich keineswegs voreingenommen den Einwürfen der
Gegner entzog, sondern sich ihnen anzupassen suchte und durch einige
schwankende Abirrungen der geraden Linie hindurchging, ohne freilich je
die Richtung zu verlieren. Alle Krümmungen dieses geradlinigen Ur-
theiles haben sich aber wieder zurechtgeschoben und sind von uns als
unlautere Fälschungen fremder Oberflächlichkeit erkannt worden. Und
nun sind wir unerschütterlich klar und fest geworden in unserer ruhigen
und trockenen Erkenntniss: Napoleon ist der Grösste gewesen aller
Menschen und aller Zeiten, eine Offenbarung der Vollmenschlichkeit,
wie sie noch nie auf Erden erschien. Das vielmissbrauchte Prädicat
»Genie« vermeiden wir; es scheint uns seiner nicht würdig. Es gab
Genies als Dichter, Denker, Künstler, Naturwissenschaftler, Feldherren,
heute redet man sogar von Erfindergenies. Ihnen Allen gemein ist die
öde Einseitigkeit. Das wahre Genie ist das Herrscherthum, das Alles
umfasst, begreift und lenkt. Deshalb kommt Friedrich der Grosse wohl
Napoleon am nächsten. Doch wird unparteiliche Prüfung lehren, dass
auch diese hohe und tiefe Natur aus schwächerem Metall und in
kleinere Form gegossen als der Riesen- und Urmensch aus Corsica.
Ihm allein eignete unter allen Sterblichen die Eigenschaft des wahren
Genius, die Universalität, das Vollmenschliche und Kosmische. Ihn den
Grossen zu nennen, wäre eine Majestätsbeleidigung wider sein Andenken,
wo so viele Geringere mit dem Titel geschmückt wurden. Ihn den
Grössten zu betiteln, wäre ja nur ein Scherz; er bleibt einfach der Eine.

Nachschrift.

Just nachdem wir unsere gegentheilige Meinung über den Gewaltigen
formulirt, erschienen soeben jene »Lettres inédites de Napoleon« (Paris, Plon),
welche der sogenannten Napoleon-Legende einen vernichtenden Schlag beibringen
sollen. Ein meisterhaft geschriebener Artikel der »Neuen Freien Presse«
fasst den Eindruck dahin zusammen: »Es ist der Geruch einer Senkgrube. Pfui
Teufel!« Dabei aber entschlüpft das Eingeständniss: »Schrecklicher und furchtbarer
wird der Mann, kleiner nicht.« Das erstaunliche Genie des Gehirnungeheuers ent-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 778, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0778.html)