Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 777
Die »Centenarfeier« des Grössten (Bleibtreu, Carl)
Text
sich gefühlt habe. Im Gegentheile sprach er es unverhohlen aus, er
müsse seine Mission erfüllen, und sei dies vollbracht, dann könne ein
Atom ihn fällen, »bis dahin aber vermag man nichts wider mich«.
Diese directe Verknüpfung mit dem Unendlichen, dies naive Bewusstsein
eines Abgesandten höherer Ewigkeitsmächte eignet allen wahrhaft
Grossen. Es erinnert an Cromwell’s tiefsinnige Frage auf dem Todten-
bette, ob man aus der »Gnade« fallen könne? Denn das wisse er
gewiss, dass er einst »in der Gnade« war. Doch wir haben ein Docu-
ment, das fettgedruckt vor allen Napoleon-Büchern stehen sollte, das
aber natürlich Niemand gewürdigt: Napoleons Ansprache an die Cor-
porationen von Madrid. Darin heisst es: »Ich vernichte das Inquisitions-
tribunal. Ich unterdrücke die Feudalrechte, welche der Adel usurpirte.
Jedermann darf nun Mühlen, Oefen, Fischereien, Gasthäuser errichten,
die Industrie hat freies Spiel. Die Selbstliebe und der Wohlstand einer
kleinen bevorzugten Classe waren eurer Agricultur schädlicher als die Hitze
der Hundstage. Wie nur ein Gott ist, so sollte nur ein Gesetz sein; deshalb
zerstöre ich alle particularistische Jurisdiction als widersprechend dem
Nationalrechte. Es gibt kein Hemmniss, das auf die Dauer meines
Willens Ausführung verzögern könnte. Doch was über meine Macht
geht, das ist, euch Spanier zu einer Nation zu machen, so lange ihr
in Uneinigkeit verharrt. Kein Staat, der England folgt, kann auf dem
Festlande existiren. Die jetzige Generation mag verschiedener Meinung
sein, zu viele Leidenschaften sind erregt worden, euere Nachkommen
aber werden mich segnen als den Regenerator. Der Tag, wo ich unter
euch erschien, wird ein nationaler Gedenktag werden, von ihm wird
Spaniens Wohlfahrt herdatiren. Dies sind meine wahren Gesinnungen.
Geht und berathet euch mit euren Mitbürgern, wählt eure Partei, aber
thut es offen und ohne Hinterhalt.« Wir enthalten uns des Commentars
zu diesem Redestücke, in dem jeder Satz eine That oder eine ewige
Wahrheit birgt. Der englische Geschichtsschreiber des Halbinselkrieges,
Oberst Rapier, ein zeitgenössischer Bewunderer des »grössten Mannes,
von dem die Geschichte meldet«, bemerkt hiezu: »Dies eröffnet ein
schönes Feld der Betrachtung über die Heftigkeit jener Leidenschaften,
die uns Menschen verlocken, dem wirklich Guten (positive good) zu
widerstehen und eifrig nach Elend und Verderben zu haschen, eher
als dass wir unseren Vorurtheilen entsagen.« Sehr richtig! Darum wird
uns nicht Wunder nehmen, dass der einzige Herrscher, der es je mit
dem Allgemeinwohle der europäischen Menschheit ehrlich meinte, heute
noch von der dummen Menge als Erztyrann und grausamer Moloch
verpönt wird. Denn die Völker plärren nur nach, was die herrschenden
Kasten ihnen aufschwatzen. Dass letztere aber Napoleon’s Erscheinung
noch heute mit unauslöschlichem Hasse verfolgen und durch eine
jämmerlich charakterlose Geschichtsschreibung sein Andenken besudeln
lassen, bietet gleichsam die Probe auf’s Rechenexempel. So gewaltig
hatte der Imperator theils durch sich selbst, theils durch gereizten
Widerstand gegen sein Joch die Welt demokratisirt, bezeichnenderweise
Preussen am stärksten, dass sich lange nach seinem Sturze dem ge-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 777, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0777.html)