Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 776
Die »Centenarfeier« des Grössten (Bleibtreu, Carl)
Text
der an Stelle kriegerischer Gewalttaten den friedlichen Ruhm der
Künste und Wissenschaften setzt? Nein! Denn bei Einführung der
Ehrenlegion würdigte er sehr wohl die Tendenzen des Jahrhunderts:
»Unsere bisherige Erziehung und unsere Sitten machten uns zu eiteln,
nicht zu starken Menschen. So fühlen sich viele Officiere verletzt, dass
ihre Decorirung bis zum Tambour heruntersteige und auch dem Schrift-
steller und Künstler zutheil werde. Doch bald werden die Militärs nur
sich selbst geehrt fühlen durch solche Brüderschaft mit den ersten
Geistesgrössen und den Ersten jedes Standes.« Diese goldenen Worte
bedürfen keines Commentars in ihrer niederschmetternden Beweiskraft
gegen unsere Napoleon-Ignoranten. Wenn aber ein Allumfasser, der u. A.
in Gesprächen mit Laplace lange vor Ehrenberg’s und Anderen Mikroskop-
forschung in der Infusorienwelt auf die Welt des unendlich Kleinen, der
Atome, hinwies, von denen wir abhängen, wenn ein solcher dennoch in der
Kriegskunst seine klarste Bethätigung fand, so muss das stutzig machen.
Aber was hätte er nicht gekonnt, wenn die Umstände ihm diese
Bethätigung versagten! Hat er nicht selbst behauptet, dass er seinen
Beruf verfehlt habe, zum Schriftsteller geboren sei? Sein erster Gedanke
in Fontaineblau war der, dass er »sich selbst überleben wolle, um
unsere Grossthaten zu beschreiben« (Anrede an die alte Garde), und
schon vorher versicherte er: Gerne lasse er sich pensioniren mit
10 Francs pro Tag bei seinen einfachen Bedürfnissen, damit er endlich
Musse für andere Arbeiten habe; nur solle man nicht von ihm
demüthigende Unterwerfung verlangen, so lange er seine Imperatorpflicht
erfüllen müsse. Auf St. Helena richtete er sich alsbald eine literarische
Villeggiature ein. Seine Schriften über Militärisches und Staatliches sind
weitaus das Bedeutendste auf diesem Gebiete. Mochte er auch manchmal
als bombastischer Falstaff prahlen: »So führt’ ich meine Klinge«, so
zuckten doch fortwährend Blitze in seinen Worten auf, die aus un-
ergründlichen Tiefen des Allbewusstseins stammen. Wo er sich vom
Persönlichen losmachte, haben seine Aussprüche etwas Transscendentales,
athmen eine compacte Grösse, die wir nur ahnen können, die aber
Carlyle sagen liess: »Dieser Mann habe Sätze gefunden wie Austerlitz-
Schlachten.« Zwar trifft sich darunter auch sein berühmtes »Vom Er-
habenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt« (December 1812 in
Warschau vor du Pradt), doch wir bekennen ehrlich, dass wir an ihm
wohl viel Erhabenes, doch das Lächerliche nur an seinen kleingeistigen
Bespöttlern entdecken konnten. Deshalb sparen wir uns zum Schlusse
die Begründung für das Wichtigste auf, ob er ein falscher oder wahrer
Prophet oder überhaupt ein Prophet gewesen sei. Ja, das war er. Wenn
er mit Blutströmen das Modergerümpel der Burgen, Zöpfe und Allonge-
perücken wegschwemmte, wenn er das morsche Gehäuse der alten
Welt zerbrach und ein neues Reich der Vernunft stiften wollte, wenn
er den Côde Napoleon mit Feuerschlünden predigte und die Devise
»Jede Laufbahn offen dem Talent!« im weiten Kaiserthume des Genius,
so wähnen nur oberflächliche Thoren oder gehässige Fälscher, dass er,
seiner Mission nicht vollbewusst, nicht als Columbus einer neuen Welt
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 776, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0776.html)