Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 790
Text
Schwägerin und den Arzt erwartend, plaudern sie gelassen; mit finsteren
Ahnungen fährt der Blinde in ihr Gespräch. Die Erwarteten kommen
nicht, eine der Töchter tritt ans Fenster, um auszuschauen. Ueber dem
Garten steht der Mond, Nachtigallen schlagen, ernst und dunkel stehen
fern die ragenden Cypressen. »Siehst du nichts?« fragt man das Mädchen.
»Nichts, nur ein leichter Wind erhebt sich auf der Strasse; die Bäume erzittern.«
»Es ist Einer im Garten,« meint der Blinde. Und plötzlich verstummen
alle Nachtigallen, die Schwäne zeigen zitternde Furcht, die Fische des
Teiches tauchen unter. Todesschweigen in der Runde. Die Rosen
sinken entblättert. Ein eisiger Hauch streift den Blinden. Man will die
Thür schliessen; aber sie schliesst nicht, sie ist verquollen — oder
steht ein Unsichtbarer zwischen Thür und Angel? Da — scharf klingt
von unten das Dengeln einer Sense. Entsetzt fährt der Blinde auf; ihm
ist, er habe im Hause den Klang des Stahls gehört. Es ist der Gärtner,
beruhigt man ihn; aber die Lampe brennt so trübe. Der Blinde schläft
ein; sie sind doch zu sonderbar — diese Blinden, meinen die Brüder.
Und jäh schreckt der Blinde empor: ihm ist, als stehe Einer an der
Glasthür. Es ist nichts; aber einen Augenblick später klappt wirklich
unten die Thür des Hauses. Das muss die Schwägerin sein. Nur hört
man keinen Schritt auf der Treppe. Das Dienstmädchen wird gerufen.
Wer ist gekommen? Niemand; sie fand die Thür offen und schloss
sie wieder, daher das Geräusch. Die Hausthür offen, wieso? Keiner
weiss es. »Drängen Sie doch nicht so gegen die Zimmerthür, als ob
Sie hinein wollten!« ruft der Hausherr dem Mädchen zu. Sie entgegnet,
sie stehe ja drei Schritte von der Schwelle entfernt. Die Stutzuhr
schlägt Elf. Dem Blinden ist, als sitze Einer neben ihm; er lässt sich
davon nicht abbringen, er ruft alle Anwesenden mit Namen, alle ant-
worten. »Aber wer sitzt da mitten unter uns? Es ist doch noch Einer
da.« Und plötzliche Beängstigung packt ihn, seine Tochter sei todt,
man wolle es ihm nur verheimlichen. Die Lampe erlischt. Schauer
fluthen durch das Zimmer und packen Alle an; man hört die Minuten
rinnen in dem bangen Schweigen, das jeden weiteren Versuch einer
Unterhaltung unheimlich durchschneidet. Alle fühlen, ein Fremder ist unter
ihnen. Zwölf Uhr. Am Tisch ein Geräusch, wie wenn Jemand aufstände.
Plötzlich im Nebenzimmer rechts das Quarren des Neugeborenen, der
bis dahin noch nie einen Laut von sich gegeben — dumpfe Schritte
im Krankenzimmer. Man schreit nach Licht. Die Thür des Kranken-
zimmers öftnet sich, Licht fallt ins Gemach — im Thürrahmen steht
die fromme Schwester und meldet, sich bekreuzigend, den Tod der
Frau. Entsetzt treten Alle näher. »Wohin? Wohin?« schreit der Blinde,
»sie haben mich ganz allein gelassen.« Schluss. Das Stück ist von furcht-
barer Kraft und raffinirter Steigerung der Stimmung. Wer es gelesen,
vergisst es so bald nicht wieder.
(Schluss folgt.)
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 790, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0790.html)