Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 789
Text
kleine, blasse Prinzessin auf ihrem Bett von furchtbaren Ahnungen ge-
schüttelt. Draussen auf dem Gange das Mörderpaar. Der Alte wimmert
und will los; halb mit Gewalt zieht ihn Anna nach sich. Liebkosungen
heuchelnd, legt sie der Prinzessin die Schlinge um den Hals. — »Willst
du mir um die Welt herum auf den Knien nachrutschen?« schreit das
Mordweib und zieht die Schlinge zu. Maleine stürzt todt nieder. Ein
furchtbares Toben der Elemente erhebt sich; vor herantobenden Wassern
erbeben die Mauern des Schlosses. Roth steht am schwarzen Himmel
der Mond. Die Schwäne unter dem Fenster der Prinzessin fliegen auf
— alle, bis auf einen, der ist todt. Die Fichtenwälder stehen in Flammen,
die Sturmglocke heult und jammert. Des Königs Haar ist weiss geworden
in dieser Nacht, seine Rede ist wirr und seltsam — Entsetzen packt
die Höflinge. Im Gange vor Maleines Zimmer treffen sich die Amme
und der Prinz; vor der verschlossenen Thür kauert winselnd der Hund
und ist nicht von der Stelle zu bringen. Plötzlich ist die verriegelte
Thür offen; eine geheimnissvolle Hand hat den Riegel zurückgestossen.
Am Boden finden sie die Todte. Auf ihr Schreien stürzt der König
herbei; nach sich schleift er die entsetzte Mörderin. An der Leiche
bezichtigt er sie des Mordes; ihr rother, über die Leiche gebreiteter
Mantel legt Zeugniss ab wider sie. Ausser sich ersticht Hjalmar die
Mörderin, dann, da er ohne Maleine nicht leben mag, durchbohrt er sich
selbst. Blöden Auges steht der König und stammelnden Mundes; sein
Sinn ist für immer umnachtet.
Mit den nun folgenden zwei Dramen »L’Intruse« (»Der Eindring-
ling«) und »Les Aveugles« (»Die Blinden«) 1) steht Maeterlinck auf der
Höhe seiner Kunst. Der furchtbare Held dieser Dramen ist der Tod,
des Verhängnisses elementarer Vollstrecker. Ein Poet des Todes, des
Todesgrauens ist Maeterlinck, wie es kaum einen zweiten in der mo-
dernen Literatur geben dürfte. Nicht in der Analyse des Sterbenden
zeigt er den Tod, er gibt den Tod an sich als Räthsel aller Räthsel.
Eine geheimnissvolle Macht ist ihm der Tod, und sie wird ihm zu
einer geheimnissvollen, mystischen Persönlichkeit, die erbarmungslos
zerstörend von aussen an das Leben herantritt. Man hört seinen Schritt,
man empfindet sein Nahen an den Spuren, die von ihm ausgehen.
Dass Blinde, deren mystischer Sinn durch eine verwirrende Aussenwelt
nicht abgelenkt wird, ihn früher empfinden als Andere, das ist die These
der »Aveugles«.
»L’Intruse«: Ein alter Herrensitz. Beim Schein der Lampe ver-
sammelt die Familie: der Vater, dessen Bruder, die Töchter und der
blinde Grossvater. Im Nebenzimmer links mit der frommen Schwester
die schwer entbundene Wöchnerin; rechts das Kind mit der Amme.
Lange haben sie nicht so beieinandergesessen; jetzt aber dürfen sie
es — der Arzt hat erklärt, die Kranke sei ausser Gefahr. So die
1) Unter dem Titel »Les Aveugles« zusammen erschienen bei Lacombles,
Brüssel.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 789, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0789.html)