Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 788

Maurice Maeterlinck (Bornstein, Dr. Paul)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 788

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788 BORNSTEIN.

sich eine Haupt- und Staatsaction, eine Intrigue, ein Kabalenspiel, wie
er es später bewusst und grundsätzlich verschmäht. Wir haben hier eben noch
keinen Selbsteigenen; der Geist Shakespeare’s schwebt über den Wassern.
Handlung und Charakter erinnern gleichermassen an »Hamlet«. Geist-
reichelnde Kritik glaubt sich die Construction eines durchgeführten Ver-
gleichs zwischen Shakespeare und Maeterlinck nicht erlassen zu dürfen;
sie ist künstlich und unsinnig. Vier Jahrhunderte geistiger Ent-
wicklung trennen die Production des Einen von der des Anderen, ihrer
Individualität nach sind sie geradezu ausgesprochene Gegensätze.

Das Stück — hier stehen wir noch auf festerem Boden — spielt
in Holland, dem Lande der Grachten und Canäle. Princess Maleine,
die Tochter des Königs Marcellus, ist mit dem Prinzen Hjalmar, dem
Sohne des Königs Hjalmar, verlobt worden. Der Königin Anna von
Jütland, die, mit ihrer Tochter als Gast am Hofe König Hjalmars lebend,
diesen mit ihren Buhlerkünsten umstrickt hält, ist das Verlöbniss ein
Dorn im Auge; sie will den Prinzen für ihre Tochter Uglyane. Auf
die Machenschaften dieses Weibes bricht König Hjalmar gelegentlich
eines festlichen Besuches am Hofe des Marcellus Streit vom Zaun und
schwört diesem, von dem er sich beleidigt wähnt, Rache. Wegen ihrer
Weigerung, auf Prinz Hjalmar nunmehr zu verzichten, wird Maleine mit
ihrer Amme von ihrem Vater in den Thurm gesperrt. Inzwischen zieht
König Hjalmar mit Streitmacht heran, Marcellus unterliegt, sein Reich
wird verwüstet, er selbst und die Königin kamen um. Nur die im
Thurm vergessenen, allseits für todt gehaltenen Frauen blieben verschont.
Die Scene, in der die Beiden, nachdem die Amme einen Stein aus der
Mauer gestossen, zum erstenmal wieder die Sonne sehen, um alsbald
beim Anblick der furchtbaren Verwüstung in einen Abgrund des Ent-
setzens zu sinken, ist von einzigem Reiz der Stimmung und von höchster
Schönheit. Der nächste Act findet Maleine frei; sie ist auf der Wan-
derung an den Hof König Hjalmars; sie will hin, obwohl sie unter-
wegs von Bettlern erfährt, der Prinz werde Uglyanen heiraten. Ange-
kommen und von Niemandem erkannt, verdingt sie sich als Zofe bei
Uglyane. Sie bemerkt, dass diese Hjalmar verhasst ist — »sie hat die
grünen Augen einer Köchin« — und da sie von einem Stelldichein
hört, das der Prinz Uglyanen gegeben, um zu erfahren, ob die Nacht
Seelentiefen in ihr erschliesse, die der Tag verschlossen halte, täuscht
sie Uglyanen und geht selbst. Die Rendezvous-Scene, in der Maleine sich
dem Prinzen zu erkennen gibt, ist von düster gespenstischem Reiz, aber
von überladener Symbolik. Und nun — der Knacks im Aufbau der
Handlung. Der Prinz und Maleine, die doch Beide die Gefahr erkennen
mussten, geben das Geheimniss preis; bei einem Hoffeste erscheint
Maleine — ein rein decorativer, ebenso unangebrachter, wie unmotivirter
Effect — in weissem Brautkleide. Königin Anna sucht Rache. Da der
Arzt, von dem sie Gift fordert, ihre Absicht ahnend, ihr unwirksames
Pulver gibt, plant sie Mord. Den zermorschten Buhlen macht sie ihren
Absichten dienstbar. Von dämonischer, grauenhafter Tragik ist diese
Mordscene. Drin im Zimmer heulend und winselnd der Hund; die arme,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 788, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0788.html)