Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 787

Maurice Maeterlinck (Bornstein, Dr. Paul)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 787

Text

MAURICE MAETERLINCK. 787

näher steht. »Die Frauen«, sagt er, »stehen dem Walten dunkler Mächte
näher als der Mann, sie sind ihm mehr unterworfen , sie sind die
verschleierten Schwestern aller grossen Dinge, die man nicht sieht, sie
haben uns den mystischen Sinn auf Erden erhalten.« Je weniger ein
Wesen nach aussen lebt, desto schärfer ist sein ahnendes Empfinden für
die mystischen Gesetze ausgeprägt, desto früher vernimmt es den nahenden
Schritt des Verhängnisses. Thiere, ein Hund, ein Lamm, ein Pferd,
hören ihn früher als Menschen, ein Kind früher als Erwachsene, Blinde
in verfeinertem Spürsinn früher als Sehende. — Das Kind und der
Blinde sind typische Gestalten Maeterlinck’scher Dramatik.

Dem Leben der Seele zum Ausdruck zu verhelfen, ist das Wort
das an sich zwar unzulängliche, aber einzige und darum nothwendige
Mittel. Bis zu welchen sprachlichen Neubildungen und raffinirten Ver-
feinerungen ist man nicht geschritten, um gemäss der gesteigerten
Empfindlichkeit auch die Ausdrucksfähigkeit des Wortes zu erhöhen.
Maeterlinck geht mit mehr Glück den umgekehrten Weg. Bei ihm ist
der Dialog von höchster Einfachheit, von archaistischer Primitivität.
Diese Einfachheit aber steht in bewusstem Gegensatz zu der Unsag-
barkeit der auszusprechenden Empfindungen. Das fällt dem Leser auf;
die müde, eintönige Sprechweise mit ihren Wiederholungen und ge-
heimnissvollen Andeutungen bestärkt ihn in der Empfindung, dass hier die
Worte mehr bedeuten, als ihr Sinn besagt, dass sie als leichte Decken
über verborgene Tiefen gebreitet sind. So strebt er unwillkürlich über
das Wort hinaus zur Seele, aus der es stammt. Und wenn er sensibel
genug ist, fühlt er jenseits der Worte die vibrirende Seele, hört er über
der Zwiesprach von Mund zu Mund den feierlichen Dialog von Seele
zu Seele. Und das ist, was der Poet erreichen wollte. Maeterlinck’s
Diction ist durchaus impressionistisch: das ist ihr Geheimniss.

Den Inhalt Maeterlinck’scher Dramen in Worte fassen, heisst den
bunten Schmelz von den Flügeln eines Falters streifen. Ihr Bestes, der
berückende Zauber der Stimmung, ihr süssschwüler Duft, entzieht sich
der Wiedergabe durch das armselige Wort. Kann Einer sagen, was er
bei Chopin gehört, bei Böcklin geschaut hat? — Von Seele zu Seele
will das empfunden sein. So ist der gleichwohl hier gewagte Versuch
einer Inhaltsangabe seiner Unzulänglichkeit sich voll bewusst.

Maeterlinck’s erstes Drama ist »Princesse Maleine«.1) Das dumpfe
Stück hat starke Vorzüge und unleugbare Schwächen, es ist die Leistung
eines Werdenden, nicht eines Gewordenen. Die später krystallkare und
tiefe Mystik brodelt hier noch in grauen Nebeln. Der später so ganz
verinnerlichte Poet hängt noch am Aeusserlichen: durch eine über er-
laubtes Mass gehende Häufung starker und massiger, oft ganz unmoti-
virter Effecte will er hier Stimmungen erzielen, die er später mit weit
geringeren und feineren Mitteln weit schärfer gegeben hat; er ersinnt


1) S. Fischer, Berlin. Druck von H. Hendrich.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 20, S. 787, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-20_n0787.html)