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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 823

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ANARCHISTISCHE EXPERIMENTE. 823

Aber im Grunde genommen ist es ganz gleichgiltig, woran Cecilia
starb — meint Giovanni Rossi! — Wenn ihr Leben ein gutes gewesen
ist, was kümmert mich dann ihr Tod? Die Colonie Cecilia musste
zugrunde gehen — meint Giovanni Rossi! — weil sie zu arm war.
Das Bedeutsame sind die paar Jahre ihres Bestandes. Der Aufenthalt
in der Colonie war ein Mittel gegen moralische Verkümmerung, er hat
die antisocialen Anlagen des Menschen der bürgerlichen Gesellschaft
zu mildern gewusst, niemals hat es einen rohen Brotkampf gegeben.
Man fühlte sich in einer moralisch hygienischen Atmosphäre.
Ohne Gesetze und Befehle hat die Colonie bewiesen, dass die Anarchie
durchaus nicht die Freilassung der Bestie im Menschen bedeutet. Man
bedenke: Ohne moderne Productionsmittel wurden schwere, ermüdende
Arbeiten wie Abholzen von Wäldern, Erdarbeiten, schwere Lasten-
transporte, Brunnenschachtung, gefährliche Arbeiten auf den Feldern —
wo man nicht selten auf schaudererregende und ungemein giftige
Schlangen stiess — und — nicht zu vergessen — Arbeiten, deren
Nutzen erst einer späteren Zeitperiode gewahrt bliebe
,
z. B. Baumschulen, verrichtet. Friedliche anarchische Zustände sind
also auch ohne Engel möglich.

Diese Erfahrungen sind für Rossi der grosse Ertrag seines Ex-
perimentes gewesen. Aber der Tod der »Cecilia« scheint ihm doch
nicht gar so nebensächlich gewesen zu sein, wie er anfangs behauptete,
denn er hat in einer Utopie, die sein Buch beschliesst, Dinge gesagt,
die in die Tiefe dieser Experimente klar blicken lassen. Diese schein-
bare Utopie ist nichts Anderes als die deutliche Absage an den Com-
munismus! Es ist nämlich nicht ganz richtig, dass der anarchistische
Communismus gesetzlos ist. Oh gewiss, er kennt kein Parlament und
keine decretirten Gesetze, aber in der Atmosphäre des com-
munistischen Zusammenlebens — das hat Rossi auch in
seiner Colonie Cecilia fühlen müssen — liegt ein drohendes,
furchtbares Gesetz latent in den Lüften: die öffent-
liche Meinung. Der Zwang der Gesetzlichkeit hat sich also nur
tiefer versteckt, ist weniger äusserlich, aber gefährlicher, innerlicher
geworden.

In seiner ersten Utopie »commune socialista« steht die folgende
Episode: Die Stoffe für seine Bekleidung konnte Jedermann frei er-
wählen. Nun nahmen sich Einzelne Sammt und Kaschmir, während die
Anderen Barchent, Leinwand oder Tuch nahmen. Man missbilligte
schweigend die Ersteren
(!). Schliesslich machte sich aber die Miss-
billigung Luft. Man scherzte, man sang Spottliedchen, man machte
Witze, bis den Einzelnen der Sammt und Kaschmir verleidet war. Der
Dr. Rossi, welcher um 20 Jahre älter geworden ist, sagt dazu ganz
richtig: »Meine arme Freiheit, in was für einen Schraubstock bist du
gerathen! Es ist zwar ein anarchistischer, das ist wahr, aber doch ein
Schraubstock!« Was im Staatssocialismus als autoritäres Gesetz sich
krystallisirt, schwebt im Communismus als öffentliche Meinung latent
in den Lüften.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 823, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0823.html)