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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 822

Text

822 GROSSMANN.

Dieser Fragebogen ist freilich nicht ganz verlässlich. Das Be-
streben, »principiell« zu bleiben, hat ihn sichtlich beeinflusst. Aber es
ist Thatsache, dass die Leute der Colonie sich daran gewöhnten, über
den ganzen Vorgang keine Miene zu verziehen, und dass das lüsterne
Behagen, mit dem man sonst derartige Affairen beschnuppert, nicht
existirt hat. Ein zweifelloses Experiment ist es aber nicht. Annibale ist
bald — ohne zu kämpfen — dem stillen Trunke verfallen. Die
Polyandrie als freies Uebereinkommen mehrerer Aufgeklärter ist also
noch nicht zweifellos bewiesen

Im Sommer des Jahres 1891 kamen in kurzen Zeiträumen zahl-
reiche Gruppen in die Colonie, Industriearbeiter, ohne Werkzeuge und
ohne Rohstoffe, Bauern, welche mit den Proletariern nicht im besten
Einvernehmen bleiben konnten. In Folge dieser allzu starken Zuwächse
kam es zu Misshelligkeiten, man musste die Colonisten zusammengedrängt
in einer Baracke wohnen lassen, und es begann für so viel Leute an
Nahrungsmitteln theilweise zu fehlen. Aber trotz dieser fatalen Calami-
täten kam es nie zu gewaltthätigen Streitereien. Mancher junge Mensch
sagte: »Man kann ja ganz hübsch leben mit ein wenig Polenta, gewürzt
durch etwas Idealismus.« Die Unzufriedenheit musste wachsen. Im Juni
1891
traten die zuerst angesiedelten sieben Familien aus, sie sagten,
sie wollten eine neue Colonie errichten, und nahmen deshalb die ge-
meinsame Casse mit. Von diesem Moment an ging’s der Colonie wieder
eine Zeit lang besser. Es blieben einige junge Leute zurück, welche
sich — weil weniger hungrige Magen da waren — satt essen konnten
und deshalb gerne arbeiteten. Sie hatten gar keine Organisation, keinen
vorgeschriebenen Stundenplan und keinen Häuptling. Und trotzdem
wurden von diesen Leuten — früheren Industriearbeitern! — Gemüse-
gärten errichtet, Roggen gepflanzt, ein Stück Wald abgeholzt, Bauholz
gerichtet und ein Staket in der Länge eines Kilometers auf der Weide
ei richtet. Später pflügte man drei grosse Wiesen, construirte einen
Backofen und einen Brunnen, errichtete eine Fahrstrasse, erntete Roggen,
Mais, Bohnen. Ende 1892 hatte die Colonie Netto-Activa von 7,020.080
Reis, die ungefähr 10.000 Francs werth sind. Trotzdem hat sich die
Colonie kurze Zeit später aufgelöst, der Boden wurde an einzelne
Colonisten verkauft, und ein grosser Theil der Genossen ging nach
Curityba, von wo aus man tiefer nach Brasilien vordrang oder zurück
nach Europa kehrte. Ueber den Anlass zur Auflösung ist man nach
den Mittheilungen Rossi’s nicht ganz im Klaren, er selbst ist der
Colonie — was gewiss nicht unwichtig ist! — durch die Bürgerkriege
in Brasilien entrissen worden, indem er als Arzt sich verpflichtet fühlte,
seine Praxis auszuüben Dann gab’s Zwistigkeiten zwischen den kräftigeren
Arbeitern, den früheren Bauern und den schwächeren Kräften, den
ungeübten früheren Industriearbeitern. Die freie Liebe verschärfte diese
Streitereien, es bildeten sich erbitterte Rivalitäten heraus, und Rossi
gesteht selbst zu, dass er keine Lust hatte, den Boulanger der Colonie
zu spielen.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 822, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0822.html)