Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 824
Anarchistische Experimente La brise en larmes (Grossmann, StefanGregh, Fernand)
Text
Den besten Theil seines Lebens hat Giovanni Rossi seinen Ex-
perimenten gewidmet. Er ist Anarchist geblieben und hat nur den
Communismus über Bord geworfen. Aber das hat der grösste Theil
der europäischen Anarchisten gethan, vielleicht Einzelne sogar etwas zu
vorschnell und ohne praktische Erfahrung. Aber nunmehr, nach den
Aufzeichnungen Giovanni Rossi’s, dürfen wir mit noch mehr Wahr-
scheinlichkeit glauben, dass die heissesten Kämpfe der Zukunft die
Duelle des Einzelnen wider jederlei Gesammtheit sein werden. Wer
irgend etwas Eigenes hat — Millionen sind durchaus nichts Eigenes —
der wird mit allen bewussten und unbewussten Kräften seiner Seele,
mit seinen Instincten und seiner Vernunft auf der Seite des Einzelnen
stehen und — ob er’s will oder nicht — als Anarchist angesehen und
mit allen Paragraphen des Gesetzes und der öffentlichen Meinung ge-
kitzelt und verwundet werden.
LA BRISE EN LARMES.
Vom grauen Himmel sinkt mit linder Kühle
Die süsse Wehmut einer Regenstunde
Und sinkt so sacht; dass ich auf meinem Munde
Ihr Wehen wie verweinte Küsse fühle;
Dann kommt der Wind und ist so weich und seiden
Wie eine Welle tief im Schilfgeflüster,
Und unter seines Himmels ernstem Düster
Irrt er wie eine Seele voller Leiden.
Du arme Seele, die im Uferlosen
Erbebt und friert in ewigem Gequäle,
Du hohe, große, brüderliche Seele
Der Himmel und der Schatten und der Rosen,
Du, Himmel, blaue Wälder und das linde
Hindämmern, — Freunde meiner Traurigkeiten,
Euch gelten meine Küsse, ihr Geweihten,
Wenn ich des Windes kühle Lippen finde.
Paris. Fernand Gregh.
Deutsch von Rainer Maria Rilke.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 824, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0824.html)