Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 821
Anarchistische Experimente (Grossmann, Stefan)
Text
anarchistisch in ihrer Organisation. Auch als der Cassier Paig-Mayol
mit der Cassa durchgeht, bleibt dieselbe zu Jedermanns Verfügung,
ohne dass man irgend eine »Autorität« ernennt. Auch sonst ist das
Experiment kein äusserliches, sondern ein gründliches, bis in die
letzten Instincte revoltirendes.
Es mangelt an Frauen, aber es ist einer Frau auch unbenommen,
wenn sie zwei Männer liebt, auch beiden anzugehören. Eines Tages
sagt Rossi zu einer Frau: »Hören Sie mich an, Eléda — Sie sind
ein ernsthaftes Weib, zu Ihnen kann man ohne Künstlichkeiten
reden.« Sie blickte ihm in die Augen und verstand. »Warum könnten
Sie mir nicht auch etwas gut sein?« »Weil ich fürchte, meinem Anni-
bale zu grossen Schmerz zu bereiten.« »Sprechen Sie mit ihm darüber.«
(Deutsche Leser wird man ersuchen müssen, über diese Episode
durchaus nicht zu lächeln. Es geht diese Sache freilich wider den
eingefressensten Instinct des Mannes, aber sie ist als Experiment zu-
mindest ein durchaus bedenkenswerther Versuch.) Und Annibale, ob-
zwar er furchtbar leidet und seinem Freunde und Nebenbuhler nicht
ins Gesicht sehen kann, gibt seine Eléda so frei, als sie es will. Da
sie nicht nur hysterisch eigensinnig wie die »Frau vom Meer« ist,
macht sie von dieser Freiheit den geeigneten Gebrauch. Weil es
Rossi insbesondere auf das Experiment angekommen ist, hat er
seinem Freunde einen Fragebogen vorgelegt. Es ist psychologisch ein
bischen primitiv, auf einem Fragebogen sich die Seele eines Menschen
serviren zu lassen. Aber einigen Werth hat dieses Fragespiel vielleicht
doch:
| Gabst du beim Weibe die Möglichkeit zu, dass es auf edle Weise mehrere Männer lieben könne? |
Ja, aber nicht bei allen Frauen. |
| Glaubst du, dass die Praxis der freien Liebe einen der Theilnehmer schmerzlich be- rühren würde? |
Ja. |
| Welchen besonders? | Ich denke, wahrscheinlich beide. |
| Verspürtest du Schmerz, als Eléda dir mein Anliegen vorbrachte? |
Nein. |
| Erstaunen? | Nein. |
| Verachtung? | Nein, niemals. |
| Erniedrigung? | Nein. |
| Zorn gegen mich? | Nicht Zorn, aber Mitleid für dich. |
| Hegtest du Furcht vor Lächerlichkeit? | Ein wenig. |
| Den Gedanken gebrochener ehelicher Keusch- heit? |
War ich keusch? |
| Ist die Achtung für dein Weib die gleiche wie früher? |
Ja. |
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 821, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0821.html)