Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 820
Anarchistische Experimente (Grossmann, Stefan)
Text
nehmen. Aber diese Aufpfropfung sollte nicht prosperiren, es bildeten
sich zwei Parteien, die kein gemeinsamer Organismus werden wollten.
Die Bauern fürchteten mit bäuerlichem Misstrauen, man wolle sie mit
der Zeit alle vertreiben. Alle conservativen Eigenthumsinstincte der
italienischen Bauern erwachten, und da die Leute nichts Anderes als
ihre Frauen besassen, artete dieser Eigenthumswahn in die tollste Eifer-
sucht aus; man glaubte die verrücktesten Theorien der »Freien Liebe«,
welche ein ehemaliger Verwalter, dem die Colonie sehr ungelegen ge-
kommen war, ausstreute. Die Streitigkeiten wurden chronisch, Rossi
musste die Colonie verlassen, und Herr Giuseppe Mori, der ein ganz
wohlwollender Mensch, aber ein alter Mann und Freund der Ruhe war,
machte dem Gezänk ein Ende, indem er den Pachtvertrag löste und die
alten Zustände wieder aufnahm.
Ein Anderer wäre nach diesem Misserfolg vielleicht kleinlaut ge-
worden, Rossi bekam durch dieses missglückte Experiment Lust zu
einem neuen. Er wollte nunmehr sein Experiment nicht mit conserva-
tiven Bauern, sondern mit Gesinnungsgenossen durchführen. Nicht auf
leihweise und zeitweise überlassenem Gute, sondern auf eigenem freien
Boden sollte eine neue Colonie entstehen. Am 20. Februar 1890
schifften sich fünf italienische Anarchisten ein, um in Brasilien das
geeignete Territorium zu suchen. »Wie ein brummiger, klügelnder Gross-
vater wollte die italienische Regierung es — anfangs — nicht erlauben,
dass wir, seine Knäblein, in die Welt hinausgingen.« In Brasilien wurden
die fünf Ankömmlinge sehr gut aufgenommen. Sie fanden ein Land
vor, über dessen urwüchsige Schönheit Rossi nicht genug Worte finden
kann. In Palmeiro finden sie unversehens einen italienischen Arzt,
Dr. Grillo, der sie mit offenen Armen empfangt, und in der Nähe von
Palmeiro, im Paranà, beschliessen sie die Colonie zu begründen. Rossi
entschliesst sich — schweren Herzens — nach Italien zurückzugehen,
um weitere Genossen mit herüber zu schaffen. Auf der Reise, in einer
einsamen Herberge, trifft er den Gouverneur von Paranà, Oberst Ser-
zedello, der sich als ein gebildeter Mann erweist, der Colonie ein Sub-
sidium von 2500 Lire gewährt und — solche Generale kann man nur
im Urwald finden! — der Entwicklung dieser socialistischen Colonie
seine besten Wünsche widmet. Nach einiger Zeit langen drei grössere
Gruppen in Paranà ein, versehen mit Aexten, Spaten, Pflügen, Pfannen,
einer Kiste Wäsche, einer Collection Sämereien und zwei grossen
Kisten Büchern. Inzwischen ist bereits in der Colonie Cecilia tapfer
gearbeitet worden. Man erwartet eine Ernte von 400 Hektolitern Mais
und 100 Hektolitern Bohnen. Auch Weizen und Wein ist bereits ge-
pflanzt worden. Dr. Grillo schreibt an Rossi nach Italien: »Deine Ge-
nossen haben mit einem Muthe und einer Selbstverleugnung gearbeitet,
die das höchste Lob verdienen.«
Nach Rossi’s Rückkunft geht es der Colonie noch besser. Die
Ernten sind günstig, Weizen, Kartoffeln, Mandioka, Wein, Tabak ge-
deihen gut. Das Klima ist gemässigt. Es muss freilich tüchtig gearbeitet
werden, aber es geschieht! Die ganze Gesellschaft ist durchaus
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 820, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0820.html)