Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 819
Anarchistische Experimente (Grossmann, Stefan)
Text
als die in den folgenden Auflagen angewandte trockene Form. Der Autor
folgt diesmal dem Geschmack der Leser, indem er mit dieser Auflage
zur alten, ersten Form zurückkehrt. Wenn Jemand finden sollte, sie sei
überschwänglich oder überzuckert, so bin ich heute vollständig mit ihm
einverstanden.« Die Utopie des Buches ist übrigens eine viel wahrschein-
lichere, als etwa jene des später erschienenen Bellamy. Alle Bürger
einer Colonie sind in Associationen organisirt. Wer an diesen Associa-
tionen mitarbeitet, bekommt seine Arbeitsmarke, die ihm sein freies
Genussrecht sichert. Sonst meinte Dr. Rossi wie Herr August Bebel:
»Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« Die Broschüre Rossi’s hatte
einen überraschenden Erfolg. Eines schönen Tages kam ein Grundbesitzer
aus der Provinz Cremona zu dem jungen Autor, stellte sich ihm als
alter Anhänger Mazzin’s mit Namen Giuseppe Mori vor und enthüllte
ihm sein Project, sein Gut Citadella aus seinem Privatbesitz in eine
socialistische Colonie umzuwandeln. Versuchsweise gab man den Bauern,
welche dort bisher als Lohnarbeiter fungirt hatten, das Gut für ein
Jahr, später für drei Jahre zur Pacht, natürlich ohne Pachtzins. Als die
Bauern nach der ersten Verblüffung sahen, dass es wirklich Ernst war,
nahmen sie das Project selbst in die Hand. Einen Entwurf eines »gleich-
heitlichen« Lebens, den ihnen Rossi vorbrachte, wiesen sie ab. Sie
wollten, so viel als möglich, ihre alten Lebensbedingungen und -Werthe
aufrecht halten und theilten die Theilnehmer der Colonie, je nach ihrer
Arbeitsleistung, in drei Classen ein: der Director, der Secretär, die
Stallmeister sollten je 360 Lire Gehalt beziehen, die Ackerbauer je
340 Lire und die Handlanger und Taglöhner je 300 Lire. Ueberdies
hatte jede Familie ihr Haus, participirte an der Ernte, der Schweinezucht,
dem Geflügel und der Seidencultur. Man baute Getreide, Mais, Wein,
züchtete Grossvieh und Seidenraupen. Die Cultur des Bodens besserte
sich; bei der Pariser Weltausstellung 1889 wurde die Colonie mit einer
silbernen Medaille ausgezeichnet. Dr. Rossi, der — übrigens ebenso
wie Peter Kropotkin — ein tüchtiger Agronom ist, wollte der Colonie
noch schneller vorwärtshelfen. Die Bauern hätten die Vortheile der
modernen Technik kennen lernen sollen. Mittelst Kunstdünger, Futter-
rüben, Anwendung des festen Pfluges bei Maiscultur, Sulfatbehandlung
der Weinstöcke gegen die Peronospora, Anwendung des Sackpfluges u. dgl.
wissenschaftlich erprobten Mitteln sollte die Blüthe der Colonie beschleunigt
werden. Aber da zeigte sich ein beachtenswerthes Symptom. Die Bauern
waren wüthende Gegner jeder Neuerung. Es bedurfte endloser Vor-
stellungen Rossi’s, damit sie wenigstens den Versuch machten, und
wenn sie dann endlich experimentirten, so thaten sie’s mit dem Wunsche
zum Misslingen. Auch das intellectuelle Leben der Bauern wollte sich
durchaus nicht ändern, eine Thatsache, die von Marxisten denn doch
ein wenig beachtet werden sollte. Sie blieben genau so katholisch,
fanatisch und bigott wie vorher. Die neuen ökonomischen Verhältnisse
zeitigten auch nach einigen Jahren gar keine intellectuelle Veränderung!
Rossi und Mori beschlossen daher, als zwei Familien die Association
verlassen mussten, an ihrer Stelle eine Gruppe von Socialisten aufzu-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 819, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0819.html)