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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 818

Text

818 GROSSMANN.

und betrübt, dem inneren Ersticken nahe vor lauter Opportunitäten.
Welcher Gedanke immer da in die klare Seele des Anarchisten fällt,
er wird in ihr zur Erlösungsidee. Einer von ihnen wird z. B. ins Ge-
fängniss nach Moabit gesteckt. Damit die langen Tage der Haft ruhiger
vergehen, liest er in seiner Zelle nationalökonomische Schriften. Er
stösst auf die Genossenschaftsidee. Eine Gedankenverbindung erwacht
in ihm. Wie, wenn die consumirenden Proletarier sich vereinigten und
ebenso die producirenden Genossen, und wenn es gelänge, die Ströme
der geeinten Consumenten zu den Quellen der geeinten Producenten
hinzuleiten? Bedeutete das nicht die Befreiung von allen Zwischen-
gliedern, Händlern und Herren? Werden sich nicht die Producenten
autonom verwalten? Ist nicht der Consument von Schuhwaaren der
Producent von Kleidern? Bedeutet nicht vielleicht die wechselseitige
Ergänzung von Consumenten und Producenten die Verwirklichung des
»freien Uebereinkommens« ohne staatlichen »Schutz«, ohne parlamen-
tarisches Pactiren? So kann die Genossenschaftsidee, welche im Munde
eines liberalen Scheuklappenbesitzers ein blosses Mittel zur »Sparsamkeit«
darstellt, in der anarchistischen Seele zur hoffnungsvollsten Utopie werden.
Es kommt nur auf das Experiment an.

Das Experiment! Es ist die Lebensäusserung des anarchistischen
Temperamentes. Diverse Experimente sind schon missglückt, aber das
hindert nicht, dass man noch hundert andere — wenn’s nöthig ist —
beginnen wird. Das Experiment wird so lange geübt, als die Ursache
hiefür, das versuchsfreudige Individuum vorhanden ist, so lange — —
nun, bis eben einmal das erste Experiment geglückt ist. Eine Reihe von
Experimenten erzählt das obcitirte Buch des italienischen Anarchisten
Dr. Giovanni Rossi, von welchem hier die Rede sein soll. Zwei grosse
Experimente hat Rossi gemacht — sie haben ihn zwanzig Jahre seines
Lebens gekostet! — Jedesmal hat er die schlimmen Erfahrungen des
vorhergehenden Versuches für den kommenden ausgenützt, die Experi-
mente an sich sind missglückt, das kann den Autor aber nicht hindern,
sein Buch mit einer neuen Utopie zu schliessen. Man wird vielleicht
gar noch bald von einem neuen Versuche hören, denn ein anarchistischer
Mensch, ein glühender Mensch, ein »moralisches Genie«, wie ihn Gustav
Landauer nannte, ist Rossi geblieben.

Im Jahre 1878, als der »Socialismus in Italien noch wenig mehr
als ein kindliches Lallen war«, hat Dr. Giovanni Rossi, damals 23 Jahre
alt, eine kleine socialistische Utopie erscheinen lassen. Diese »commune
socialista« vermengte den Traum einer socialistischen Gemeinschaft sehr
anmuthig mit einer Liebesgeschichte. Einmal sagt der Held der Erzählung:
»Wenn wir von unserer Liebe sprechen wollten, sprachen wir vom So-
cialismus.« Es war das Buch eines jungen Menschen, mit einigen argen
Dummheiten, aber auch die Dummheiten im prächtigen Brustton der
Ekstase vorgetragen. 1891, zur fünften Auflage des Büchleins, schrieb
Rossi als Vorrede: »All die Sentimentalität und die Rhetorik, welche
der Autor, damals blutjung, in diesen Seiten niedergelegt, als sie, 1876
verfasst, zum erstenmal im Jahre 1878 gedruckt wurden, gefiel mehr,

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 818, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0818.html)