Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 817
Anarchistische Experimente (Grossmann, Stefan)
Text
Von Stefan Grossmann (Wien).
Allmälig dämmert es in einigen Gehirnen auf, dass Ravachol und
Most nicht den ganzen Anarchismus ausmachen und dass die polizei-
liche und journalistische Wissenschaft vom Anarchismus doch wohl nicht
ganz erschöpfend sei. Hat sich doch auch Tolstoi selbst einen Anarchisten
genannt, und diese Neo-Urchristen sind es auch factisch; sie verweigern
Staats- und Waffendienst — als der Lehre Christi widerstreitend —
haben keinerlei Eigenthumsinstinct und verabscheuen Alles, was ma-
terielle Vergewaltigung bedeutet. In Deutschland gibt es ein paar
Dutzend Anarchisten, welche — es ist scheinbar komisch — von
Consum- und Productivgenossenschaften ein starkes Stück Annäherung,
wenn nicht gar Verwirklichung des »kommenden Reiches« erwarten.
In Italien — das bezeugt uns ein eben erschienenes Buch von Dr. Gio-
vanni Rossi, »Utopie und Experiment«2) — hat man von anarchisti-
schen Colonisationsexperimenten viel erwartet. Auf den ersten Anschein
möchte man meinen, dass in diesen divergenten Versuchen und Rich-
tungen kein gemeinsames Element zu finden sei. Bedenkt man ferner
noch, was für differente Individuen sich in diesen Gemeinschaften finden,
Proletarier und ärmste Proletarier (die Socialdemokratie nennt sie
Lumpen Proletarier), Studenten und idealisirte Bourgeois, religiös-ethische
und rein ästhetische Naturen, so wird man nur schwer irgend eine
Synthese für so viel Ausläufer finden können. Diese Gemeinsamkeit
aller Anarchisten, von Ravachol bis Tolstoi, von Peter Kropotkine bis
zu Richard Dehmel ist ein bestimmter Zustand des inneren Menschen
von heute. Die Anarchie — hat einmal Camille Mauclair geschrieben —
ist keine dogmatische Theorie, sie ist ein Seelenzustand. Sie ist ein
bestimmter Temperaturgrad der Seele, eine bis zur Religiosität ge-
triebene Erhitzung der Seele, welche, wenn man die erbärmlichen Kälte-
zustände des inneren Menschen von heute bedenkt, ein erfreuliches
und hoffnunggebendes Symptom ist. Wie gering sind alle Sentiments
des modernen Menschen! Er vermag sich nicht mehr zu erhitzen und
nicht mehr zu erkälten, der gründliche Ekel ist ihm fremd und ebenso
die Freude von Grund aus. Der Anarchist ist der einzige elementare
Mensch von heute; alle anderen sind vollgepfropft, beschmutzt, trübe
1) Wir geben diesen Ausführungen Raum, ohne sie zu billigen, weil wir
der Ansicht sind, dass es für unsere Leser interessant sein dürfte, in das Wesen
und die Ziele des Anarchismus Einblick zu gewinnen. Die Red.
2) Aus dem Italienischen, gesammelt und übersetzt von Alfred Sanftleben
Selbstverlag. Zürich 1897.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 21, S. 817, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-21_n0817.html)