Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 835
Text
Es war eine kurze Begegnung, aber ich sah so viel in dem kurzen
Augenblick.
Ich sah, er war bleich, nicht nur von der Morgenkälte, sondern
von den Thränen der kleinen Alma. Die Blässe der Trennung lag über
seinen Zügen. Ich sah, er hatte gelitten, ja er litt sogar noch jetzt.
Auch diesesmal hatte ich die Hand geballt, auch diesesmal sank
sie nieder. Jetzt war es sein Schmerz, der mich entwaffnete, wie es
das letztemal seine Freude war.
Und während ich still zwischen all dem herbstgelben Laub heim-
ging, welches erzählte, dass nun der Sommer vorbei wäre, dachte ich
an sie, die wieder allein dort oben sass auf einem kleinen grünen Fleck
im Walde.
Wieder ergriff mich das Thema; nicht künstlerisch wie das
letztemal, sondern menschlich; ich hatte keine Lust, die kleinen hell-
blauen Blumen zu malen, welche der Sportsman niedertritt; heute
wollte ich lieber für sie bitten. Wie einen Lichtpunkt sah ich seine
bleichen Schmerzenszüge, und ich schloss wie im Gebet: möchte das
Leid ihn Barmherzigkeit lehren, Barmherzigkeit gegen sie dort oben
und gegen diejenigen, denen er noch auf seinem Wege begegnen
würde! Möchte das Leid ihn lehren, dass das Leben etwas mehr ist
als ein armer Moment, ein armer Augenblick der Freude!
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 835, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0835.html)