Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 834

Ein armer Augenblick (Lassen, Helene)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 834

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834 LASSEN.

Und das Boot glitt weiter, die Sennhütte entschwand, das Schloss
verschwand, wie sie wusste, dass es wirklich verschwinden würde.

Sie blickte sich um. Zuerst hinauf nach den hohen, rauhen Felsen;
unwillkürlich sank sie zusammen. Die Linie vom Kopf über die Schulter
wurde noch gebeugter, noch wehmüthiger, denn die Felsen ähnelten
den Menschen draussen in der Welt, den Menschen mit dem kalten,
abweisend harten Blick. Und heute war keine Sonne auf dem Berge;
keine Sonne, keine Sonne, plätscherte es düster um das Boot!

Sie blickte sich wieder um; ich wusste, es geschah nach Farben
und Sonne.

Und ihr gleitender, suchender Blick traf die feinschattirten Moos-
flächen; aber es lag die kühle Reinheit der Berge darüber und stiess
sie, die Unreine, zurück. Und der kindesblaue Blick — nein, er war
nicht mehr kindesblau, denn er war von der Trauer des erwachsenen
Weibes verschleiert — glitt demüthig zum Walde herab. Hatte auch
er kein Mitgefühl mit ihr, keinen Schutz für ihren brennenden Schmerz?
Düster stand er da mit der Einsamkeit des eingeschlossenen Bergsees,
schwarzgrün und in Kirchenstimmung, heute mit keinen anderen
Farben, als dem ersten herbstgelben Hauch, der sie gerade heute so
schmerzlich daran erinnerte, dass das Ganze nun bald ein Ende hatte.
Wie im Märchen würde der Prinz und das Schloss und Alles ver-
schwinden! Selbst würde sie allein bleiben wie früher, arm wie
früher.

Aber etwas würde ihr doch übrig bleiben, all die schönen Dinge,
die er ihr gegeben!

Und ich glaube, sie lächelte wieder und liess die Hand lieb-
kosend über das warme, weiche Kleid herniedergleiten, das er ihr zum
Winter geschenkt hatte, und den Shawl, den schönen, gestreiften
Shawl, der weich und warm war wie seine Liebe! Und ausserdem
— noch waren ja vier Tage übrig, noch vier Tage droben auf dem Schloss!

Und ihre Augen öffneten sich weit und blickten nach ihm in
dem hellgrauen Anzug hin. Wie flott und frisch und licht er aussah!
Nun nickte er ihr munter zu, während er eifrig die Schnur einzog —
ein Fisch hatte am Haken angebissen!

Und ihre Augen wurden wieder kindesfroh und kindesklar. Sie
richtete sich halb im Boot empor und warf den Kopf muthig zurück.
Noch hatte er sie ja nicht fortgeworfen, noch war sie ja die Blüthe,
die lebt und duftet — noch, noch einen kurzen Augenblick!

Einige Tage später begegnete ich ihm im Wagen auf der Strasse.
Er war auf der Heimfahrt — die vier Tage waren vorüber.

Es war ein kühler, herbstlicher Morgen, und er sah aus, als
wenn er fror, wie er da in dem Wägelchen neben dem Postillon sass.
Er fuhr auf, als er Jemandem auf der einsamen Strasse begegnete; er
lüftete rasch den Hut und verschwand bei einer Biegung. Die Jagdhunde
trabten hinterher.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 834, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0834.html)