Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 833

Ein armer Augenblick (Lassen, Helene)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 833

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EIN ARMER AUGENBLICK. 833

stürmenden Hunden sah. Und er bleibt stehen und pflückt die
schüchternen wie die kecken, die geneigten wie die geraden und lässt
hinter sich einen Weg voll gebrochener, verwelkter, niedergetretener
Blumen zurück.

Etwa vierzehn Tage später begleitete ich einige mir bekannte
Touristen zum Sanatorium hinauf. Es war dort keiner von den früheren
Gästen mehr da, sondern lauter neue Gesichter. Ich fragte nach den
Beiden. O, sie hatten sich eine Sennhütte dort oben gemiethet, sie
Beide allein; sie hatten nur einen alten Mann mit, der sie auf die Jagd
begleiten sollte und ihnen sonst ein wenig helfen; und man lächelte
vielsagend zu diesen Erklärungen.

Wir wollten auf dem Bergsee fahren und setzten uns ins Boot.

Der See lag still, blank und träumend da. Die moosbekleideten,
buntfarbigen Ufer fielen gegen das Wasser sanft herab; über ihnen
ragten hohe, düstere Felsen empor, deren Spitzen vom Nebel ver-
borgen waren; keine Sonne, kein Wind, nur träges Wohlbehagen.

Wir duselten hin, Jeder in seinen eigenen Sorgen oder Freuden.

Da näherte sich ein Boot, das hinter einer Landzunge hervorkam.
Wie deutlich es sich abzeichnete. Vorne sass ein junger Mann in hell-
grauem Anzuge und angelte, mitten im Boot sass ein alter Mann und
ruderte; aber im hinteren Theile des Schiffes lag, sorgfältig mit Decken
und Shawls eingehüllt, ein Kind und schlief, so glaubten wir. Fein und
weich zeichneten sich die Contouren des Kindes ab, keck und jugendlich
die desjenigen, der angelte, alt und gebeugt die dessen, der ruderte.
Ein schönes, stimmungsvolles Bild. Ich genoss es eine Weile, während
wir uns dem Boote näherten. Da rührte sich das feine Köpfchen in
dem Boote. Ach — es war die kleine, blaue Alma; aber nicht so,
wie ich sie das letztemal gesehen hatte; wo war nun ihre stolze Freude?
Warum legte sie sich wieder so müd, so todesmüde in das Boot
zurück? Das Boot glitt weiter; aber ich wandte mich um und folgte
ihm mit den Augen.

Und ich sah eine feine, wehmüthige Linie von dem blossen Kopf
die Schulter hinunter, wo der Shawl herniedergeglitten war. Die Augen
waren auf einen lichten Punkt droben auf der Berghalde gerichtet, auf
ihre Sennhütte droben, sein und ihr kleines Sommerheim droben auf
den Bergen.

Wie von unwiderstehlichem Drang getrieben, erhob sie eine
Hand, eine schmale, bleiche, kleine Kinderhand, als wollte sie die
Sennhütte in der Flucht ergreifen, sie festhalten, fest, denn das war
ja ihr Schloss, ihr schönes Soria-Mosta-Schloss, wo kein Anderer als
sie und er wohnte, wo keine Blicke sie kalt und mit weltlichem Ur-
theil bewachten, sondern wo nur die kleinen, bleichen Sommersterne
spät, spät am Abend zu ihnen hineinguckten, wenn das Feuer auf
dem Herde im Erlöschen war und er müde nach den Strapazen der
Jagd dasass und wie ein Regen von Rosen die zärtlichen, bethörenden
Worte über sie herabflüsterte!

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 833, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0833.html)