Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 832
Text
konnte ich sie ihr also nicht gönnen? Wie herzlos wir »Damen« im
Grunde genommen gegen unsere unglücklichen Schwestern sind! Sollte
ich nicht doch mehr Mitleid mit ihr haben?
Und ich sah sie in Gedanken arm und krank drinnen in der
Stadt sitzen und vom Morgen bis zum Abend Handschuhe nähen, und
hörte dann mitten in dem hoffnungslosen Dunkel einen reichen jungen
Mann sagen: Folge mir von all diesem fort; ich schenke dir gute
Tage — ich gebe dir meine Liebe, vielleicht wird sie lange währen,
lange — — Nein, was wussten wir Glückskinder der Gesellschaft davon,
was die Versuchung ist?
Und der Gedanke an die kleine Alma verfolgte mich, noch nach-
dem ich von dort fortgereist war. Ich sah sie so deutlich vor mir,
wie sie dort allein für sich war in der Menge mit ihren kindlichen
blauen Augen und ihrer kindlichen blauen Blouse.
Eine Woche später sass ich am Fenster in meinem Zimmer und
schrieb. Ich wohnte nun auf einem Hof weiter unten im Thal, wo die
Strasse vorbeiführte, und ich amüsirte mich oft damit, die Reisenden
von und zum Sanatorium zu beobachten. Wagengerassel ertönte auf
der Landstrasse, und ich blickte empor.
O, da sass sie ja im Wagen, strahlend vor Freude! Denn nun
war sie nicht mehr allein — er war gekommen! Sie war also den
weiten Weg zum Dampfschiff hinuntergefahren, um ihn zu holen, und
nun sass er hinten und fuhr sie — fuhr sie durch die schönen Reiche
des Sommers, durch Wald und grüne Bäume, durch blumige Wiesen,
vorbei an blinkenden Wassern und rieselnden Bächen, durch Vogel-
sang, durch Liebesverheissungen.
Es war nicht anders möglich, ich musste mich für sie freuen,
obgleich es mich so schmerzlich berührte, dass ich wusste, es würde
nur einen armen Augenblick dauern; wusste, dass sie die Blume war,
die heute oder morgen ins Feuer geworfen wird. Und ich folgte ihnen
mit den Augen, sah ihre gerade freudige Haltung. Es war, als wenn
das Glück und die Ruhe über seine Anwesenheit sie geadelt, ihr
die Frauenhaltung und die Sicherheit gegeben hätten, welche der
Stempel der Gesetzlichkeit verleiht. Und dann sah ich ihn an —
ferienfroh, die Jagdhunde hinter sich. — Nun würden die Beiden leben!
Und ich wollte die Hand gegen ihn ballen, ihn Verführer und
Betrüger nennen — aber die Hand sank nieder, denn die beiden
sahen so froh aus, und die Freude entwaffnete mich.
Ich erhob mich und ging hinaus, sie hatten mich für heute
verstimmt.
Das Thema hatte mich ergriffen, und ich sah das Ganze wie
auf einem Gemälde: eine sommergrüne, duftende Wiese voll hellblauer
Blumen — muthig und gerade stehen sie da. Und einzelne so
schüchtern und halbgeschlossen. — Dann kommt der Jäger, er, den
ich eben im hellgrauen Sportanzug ferienfroh mit den hinter ihm her-
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 832, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0832.html)