Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 831
Text
gesagt, und nun habe ein guter Freund dafür gesorgt, dass sie den
Sommer über hier oben wohnen und wieder gesund werden könnte.
Und die grossen kinderblauen Augen strahlten.
»Er kommt selbst später hier herauf.«
Und dann verschwand sie wieder unter den anderen Gästen.
Am Tage darauf war sie nicht wohl, man sagte, sie müsse zu
Bette liegen. Auch zum Mittag kam sie nicht hinunter; aber am Nach-
mittag traf ich sie auf der Treppe, im Begriff auszugehen. Sie war
verweint und sah betrübt aus.
»Sind Sie heute krank gewesen, Fräulein Dahl?« fragte ich freund-
lich. Sie blickte dankbar zu mir auf.
»Ja, ich bin oft krank. Im Frühling war ich nahe dem Tode,«
sie erschauerte leicht und sah mich bittend an, als wenn ich ihr helfen
könnte, »ach, ich möchte so ungern sterben — und doch!« sagte sie
mit plötzlichem Ausbruch. Ich verstand, dass sie sich mit einer grossen
und geheimen Freude trug, mit etwas, was das Leben für sie reich
machte, obgleich sie arm und krank war.
Sie setzte sich mit einem Strickzeug allein, ein wenig von den
Anderen entfernt, hin, und blickte über das Wasser hinaus.
Alle Anderen vereinigten sich in Gruppen, verstanden einander
und gehörten zu einander. Nur dieses junge Mädchen gehörte gleichsam
nicht hieher, hatte seine eigene Welt für sich. Ich kam mit einer der
Frauen, einer schönen jüngeren Dame mit der sicheren Haltung der
Weltdame, ins Gespräch. Sie sprach mit grosser Zungengeläufigkeit.
»Sagen Sie mir, gnädige Frau, haben Sie das junge Mädchen
dort beachtet?« Sie zeigte auf Fräulein Dahl hin.
»Ja, ich habe mit ihr mehrmals gesprochen.«
Sie blickte mich fragend an.
»Haben Sie nicht das starke Parfum bemerkt, das sie benutzt?«
»Ja, sie macht einen etwas simpeln Eindruck, so dass sie
wohl nicht zwischen feinen und einfachen Parfums zu unterscheiden
vermag.«
Die Frau lächelte.
»Wissen Sie, was der junge Herr, der ihr überall nachgeht, gestern
zu meinem Mann sagte? Ja, er sagte: keine Dame gebraucht solches
Parfum.«
»Sie meinen,« fragte ich erschreckt, »dies junge, naive Mädchen?«
»Ja, schön naiv! Sie ist ein Protegé von Herrn (sie nannte
einen bekannten Namen aus der Hauptstadt), er bezahlt für sie hier
oben, und voriges Jahr war er mit einer Anderen hier.«
Ich fühlte mich sehr unangenehm berührt. Unwillkürlich sah ich
nach ihr hin. Nun erhob sie sich und ging langsam fort, und es war
mir, als warf sie uns einen misstrauischen Blick zu.
Am Tage darauf hatte ich keine Lust, mit ihr zu plaudern,
näherte sie sich, so zog ich mich zurück, obgleich es mir leid that,
ihren scheuen und betrübten Blick zu sehen, den sie mir jedesmal
nachsandte. Ich begriff, dass sie meine Freundlichkeit vermisste; warum
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 831, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0831.html)