Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 836
Selene Zu einem Bild von Holman Hunt (Schmitz Oscar A. H.Soulier, Gaston)
Text
Sie scheint in dieser Einsamkeit zu leben
— Kaum ist der Glanz der Farbe noch verwischt —
Und ihre Ruhe leis mit Schmerz gemischt
Dem alten Schlosse immer noch zu geben.
Sie steht im Kleid vergangener Jahrzehnte
Auf der Terrasse die den Thurm umschliesst
Als ob im Dämmern, wenn die Form zerfiiesst
Sie noch der Wolken fernes Weiss ersehnte.
In blindgewordnen Spiegeln schimmert wieder
Der Hochmuth um die Lippen die stets schweigen
Und die verhehlte Traurigkeit der Lider.
Durch gothische Bogenfenster langsam steigen
Die letzten Lichter nieder und umziehn
Das Bild mit einem Schein, grau und carmin.
Paris. Gaston Soulier.
Deutsch von F. R.
SELENE.
Darf ich Freundin dich und Schwester nennen,
Die des Nachts dem Wolkenbett entflieht,
Wenn die Glieder in den Linnen brennen,
Dass es mich zu deinem Lichte zieht?
Denn ich ward gezeugt in deinem Scheine,
Fremd mir selbst, in wandelbarem Sinn,
Dass ich ewig nach dem Lande weine,
Dessen Bläue ich am fernsten bin.
Dass ich mich in stetem Sehnen wiege,
Ohne Heim und überall ein Gast,
Dass ich mich wie eine Weide biege,
Die ein abendlicher Schauer fasst.
Und ich spiegle mich in allen Quellen,
Und ich lausche mein in jedem Hain,
Meine Sehnsucht fliesst in allen Wellen,
Meine Ohnmacht schläft in jedem Stein.
Wenn ich Abends auf die Höhen steige,
Harrend deinem bleichen Trost im Traum,
Ist’s, als ob das nahe Leben schweige,
Ob ein todter Vogel fiel vom Baum.
Paris. Oscar A. H. Schmitz.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 836, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0836.html)