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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 849

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WAS LEHRTE JESUS? 849

der Gottessohn des »Vaters« im Reich der Lichtsöhne, gefunden. In
Ihm, ihrem Grössten, hat die Menschheit sich selbst
geehrt
. Dass diese einzige Erscheinung, der Mittelpunkt und Heer-
fürst des ethischen Lebens, an der Wendescheide des Untergangs der
alten Welt erschien, darf historisch nicht Wunder nehmen. Die natur-
wissenschaftlichen Erkenntnisse des XIX. Jahrhunderts, obschon sie als
solche gleichfalls eine Wendescheide vorbereiten, werden in ihrer
sonstigen Tragweite nur noch von Laien überschätzt, sie haben zur
Lösung der Lebensräthsel sehr wenig beigetragen. Und wenn auch
englische und französische Sensualisten einiges Tüchtige leisteten, wenn
später die deutsche Metaphysik hohen Aufschwung nahm, so zehren
doch alle Neueren nur von der Antike bezüglich der eigentlichen
Hauptfundamente des Denkens. In Jesus hatte nun die genialische
Denkarbeit der Griechen, besonders ihrer Urphilosophen wie Heraklit
und den Eleaten, sich mit dem mystischen Tiefblick der Inder und
dem wuchtigen Ethos der Hebräer gepaart. Alle diese reichen Elemente
verarbeitete er jedoch in sich mit einer eigenthümlichen Ursprünglich-
keit, wie sie allein dem naiven Genie eignet. Wo alle Andern enden,
da fängt er eigentlich erst an. Er steht jenseits metaphysischer oder
ethischer Haarspaltereien, er verlegt die letzten logischen Denkbegriffe
ausschliesslich ins menschliche Gehirn, »inwendig«, er schlägt die
Schlacht der Erlösung ohne jegliche transcententale Beihilfe im eigenen
inneren Naturgesetz der sittlichen Nothwendigkeit, er zieht »die
Himmel« in den Menschensohn nieder, erweitert jedes Einzelglied zum
All und verleiht uns die Herrschaft des Alls, indem alle geistigen
Urkräfte des Alls in den zur Erkenntniss Gereiften niederströmen.
Jesu Lehre ist das Hohelied des Geistes, der sittlichen Denkkraft,
wie es in schwacher, unklarer und skeptisch zerrissener Form Byron’s
Lucifer im Munde führt. Bei Jesus aber, dem Sieger über Welt und
Tod, hat der Pessimismus längst den Pessimismus in sich aufgehoben,
die Nichtigkeit des Sinnenlebens versank vor der Herrlichkeit des
Vaters im All, des freien Denkens und Fühlens. Ein so festgefügtes
System er uns bietet, so muss doch betont werden, dass seine abstracte,
ganz wissenschaftlich ergründete Erkenntnisstheorie der sittlichen Werthe,
die er mit so göttlicher Einfalt auf die populärsten und scheinbar dem
Ungebildetsten verständlichen Redeformeln und Parabelsprüche zu-
sammendrängte, ihre wahre innere Beleuchtung doch nicht aus dem
Verstande, sondern aus intuitivem Gemüthe empfängt. Die ganze Gött-
lichkeit dieser Lehre vom All-Gefühl, die durchaus nichts mit kühlem
spinozistischen Pantheismus gemein hat, muss mit der Empfindung be-
griffen werden, in gleichsam hypnotischer Verzückung (wie von
Johannes auf Patmos), wo die in uns schlummernden latenten Psyche-
kräfte das Band der Materie sprengen. Das allein hat meines Erachtens
Jesus mit seinem berühmten Kindergleichniss gemeint: »Wenn ihr nicht
umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht die Herr-
schaft des Alls antreten.« Ein Kind fragt mehr, als alle Weisen be-
antworten können, da in ihm noch die naive unzerlegte Intuition und

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 849, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0849.html)