Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 848
Was lehrte Jesus? (Bleibtreu, Carl)
Text
ziehe«. Eine sogenannte Gnadenwahl liegt also hier vor, die sich aber
schlechterdings nur auf diesseitige Entwicklung bezieht, was ja bei
der unendlichen Differenzirung der Menschen untereinander auch die
Erfahrung lehrt, nicht aber auf eine lächerliche Himmels- und Höllen-
prädestination! (Die Vorherbestimmung der indischen Karma liesse
sich beiläufig sonst ganz gut dem Jesussystem einfügen, nur in ge-
läutertem, gereinigtem Sinne.) Eins aber darf der Heiland in ruhiger
Zuversicht von sich aussagen: »Jeder, der auf den »Vater« hört und
von ihm lernt, der kommt zu Mir,« denn er fühlt sich eins mit der
ewigen Wahrheit, ihr klarster Dolmetsch. »Ich bin nie einsam, denn
der Vater ist mit mir. Seid kühn! Ich habe die Welt
über-
wältigt!« Mit diesem gewaltig herausfordernden Trutzgesang des
Heldenwillens, der die Welt besiegte, scheidet der Lehrer von dieser
Zeitlichkeit, hinauf »zu der Klarheit, die er im All hatte, ehe denn die
Welt war«.
Da haben wir also die eroici fuori des Giordano Bruno, den
Herrenmenschen Nietzsche’s: Etwas Neues glaubten sie zu bringen und
der Held der Helden war doch schon lange sichtbar erschienen. »Der
Held ist heiter,« lautet eins der richtigeren Aperçus Nietzsche’s.
Und so denken wir uns Jesus heiter und schwermüthig selig. Bei aller
schlichten Einfachheit aber tritt diese einzige Persönlichkeit doch in
den Ueberlieferungen der Evangelien recht als hoher Herr uns ent-
gegen, mit der Majestät eines Geisteskönigs, ehrfurchtheischend. Und
da Volk und Vornehme seine Rede hörten, entsetzten sie sich. Sie
werden sich auch heute entsetzen, wenn der wahre Jesus unter sie
tritt. »Denn der Menschensohn wird kommen zu der Stunde, da ihr
es nicht ahnet.« Und er wird sprechen (Kirchbach hätte dies citiren
sollen) zu den Schriftgelehrten: »Weh euch! Ihr baut den Propheten
Grabmäler, aber eure eignen Vorfahren tödteten sie. Es wird gefordert
werden von diesem Geschlecht aller Propheten Blut, das vergossen ist.
Wehe euch! die ihr den Schlüssel zur Erkenntniss habt, aber ihr kommt
nicht hinein und verwehrt den Eingang nur denen, die hinein wollen!«
Das Pseudochristenthum, das Seinen heiligen Namen missbrauchte, nicht
um die Welt »frei zu machen«, sondern sie in abergläubiger Dummheit
zu unterdrücken und dem gemeinen Egoismus der Cäsaren und Hohe-
priester auszuliefern, trägt sein Gericht in sich selbst. »Ihr Heuchler!«
Dies Donnerwort des Nazareners, das immer wiederkehrt, dröhnt schon
zwei Jahrtausende heimlich in ihr Gewissen. Und dennoch, welch tief-
sinniges Wunder! Die Mythologie vom Gottessohn Christus beruht
im letzten Grunde auf Wahrheit. Denn wie Lord Byron, einer von
denen, die heimlich die Jesuslehre vom »Vater im All« mit heisser
Inbrunst suchten, einmal bekennt: »Wenn je ein Mensch Gott und Gott
Mensch war, so war Er es.« So übermenschlich hehr und heilig steht
der Riesendenker, der Weltheiland, vor uns, dass wir die göttliche
Verehrung, die ihm aus anthropomorphischen Vorstellungen gezollt
wurde, nicht umstossen dürfen. Wenn denn die Massen einmal ein
Symbol haben müssen, hier ist wirklich und wahrhaftig das Palladium,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 848, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0848.html)