Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 847

Text

WAS LEHRTE JESUS? 847

heissen, dass der irdische Gewalthaber, der nun störend eingreifen wird,
an dem Gottgesandten und Menschheitsvertreter »nichts hat«, d. h. ihn
nicht begreift. In Kirchbach’s Uebersetzung aber dürfte der Sinn wohl
sein: der All-Herrscher braucht das nun bald zerbrochene Gefäss gar
nicht mehr, er wird schon ein anderes finden, ein Sinn, der zu der
übermenschlich-unpersönlichen Demuthgüte Jesu wohl passen würde.
Aber er schliesst: »Von hier aus lasst uns leiten!« (Luther’s Ueber-
setzung ist hier völlig unsinnig), d. h. von diesem Grundsatz (des
Wanderns zum Vater) aus lasst uns immer wieder den Hebel ansetzen
zur Welterlösung. »Wohl kommt die Stunde, wo Jeder, der euch mordet
(als Ketzer), dem Gott zu dienen meint.« Aber der Geist der Wahr-
heit wird die Welt der Sünde »überführen« und der Gerechtigkeit der
Jesulehre, denn er wird aus der Erfahrung melden die innere Noth-
wendigkeit (»was da kommen muss«) der Natur- und Sittengesetze. Und
er wird Jesum »beglaubigen, weil er nur nur aus dem Meinen
genommen wird
«. Hier sieht sich also der gekreuzigte Menschheits-
vertreter mit Recht als die Urquelle der ganzen Wahrheitsbewegung
an, empor zum Licht der Ideale. Deshalb ȟber ein Kleines bedenkt
ihr mich nicht mehr, aber wieder über ein Kleines, da werdet ihr mich
schon wiederschauen«, d. h. immer, so lange die Menschheit währt.
»Das Weib, wenn es gebärt, fürchtet sich; wenn sie aber gebar, ge-
denkt sie nicht mehr der Angst um der Freude willen, dass ein Mensch
geboren ist. Ihr trauert, doch euer Herz wird so voll Freude
werden, dass euch nichts mehr zu bitten übrig bleibt.« Denn die Er-
kenntniss des Sittengesetzes, der Einheit mit Gott, gewährt jede Er-
höhung des Menschenthums, die man von ihr verlangt, sie züchtet
lauter beflügelte Uebermenschen. Vor dem war die Menschheit blind
und taub und kannte nicht den Urgrund der Sittlichkeit, ahnte des-
halb nicht das wahre Wesen der Sünde und ihrer dumpfen Qual.
»Wäre Ich nicht gekommen, so hätten (wüssten) sie keine Sünde, nun
aber haben sie keinen Vorwand mehr dafür.« Aber das gegenseitige
Vergeben des Menschenbundes und der unablässige Wahrheitsdrang
machten uns frei, das ist die Erlösung, nicht die mystische »Gnade«
eines Opferlamms. Denn von Glauben und Hoffen auf zweifelhafte
Jenseitswerthe erwartet Jesus gar nichts, sondern vom Wissen der
inneren Ethik des Alls, welche uns das tiefste »Vertrauen« (Pistis)
auf die Wahrhaftigkeit der Dinge, ihre zweckmässige Nothwendigkeit
erzeugt: »Suchet nur, so werdet ihr finden, klopfet an, es wird euch
aufgethan!« Vor einer so grossartigen Weltanschauung zerstieben natür-
lich all die Phantome der Erbsünde, der Schuld und Strafe. Als die
Jünger ihn fragen, ob der Blindgeborene gesündigt habe oder seine
Eltern, weist er diese gemeine Vorstellung herbe ab: »Weder diese
noch jene, sondern die Werke Gottes müssen eben offenbar werden,«
die Natur geht ihren Causalitätsgang, und ein Warum wissen wir nicht.
Deshalb gesteht er auch gelegentlich, dass Niemand zur Heilslehre
durchdringen könne, dem es nicht »aus dem Vater« (d. h. den ethischen
Kräften des Alls) gegeben sei, den nicht der eigene Trieb dazu »hin-

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 847, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0847.html)