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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 846

Text

846 BLEIBTREU.

nicht kennet, ich kenne ihn aber«, nämlich den Geist der Wahrheit.
Mit Heldenstolz stellt er den Muckern, denen er den Boden unter den
Füssen fortzieht, seine unnahbare Geistesgrösse gegenüber: »Ihr stammt
von unten, ich von oben, ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von
dieser Welt«, womit natürlich nur die unermessliche intellectuelle und
ethische Differenzirung des Genies vom pharisäischen Durchschnitts-
pöbel, beileibe nichts Transcendentales, sich aussprechen soll. Und er
verheisst: »Ihr werdet Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird
euch befreien
«, was den Hörern sehr sonderbar vorkommt, da sie
doch keine Hörigen seien und Befreiung nicht nöthig hätten! »Was
mich beglaubigt, das ist mein Vater (d. h. mein Gottbegriff), von dem
ihr saget, dass er euer Gott sei, und habt ihn doch nie erkannt,
ich aber weiss ihn.« »Ich und der Gottesbegriff des Alls (der »Vater«),
wir sind eins.« Das soll man nicht »glauben«, wie Luther falsch über-
setzt, sondern »begreifen«. Und als man ihn fragt, wer denn dieser
Menschensohn sei, der »erhöhet« werden solle (was die Kirche natür-
lich auf die Kreuzigung bezieht!), antwortet er klar genug: »Damit
ihr das Licht habt (behaltet), seid treu dem Licht, damit ihr Licht-
söhne werdet.« Also: dieser Menschensohn, der Lichtsohn werden soll,
das sind wir alle, die Menschheit. »Sollte aber Jemand meine Worte
nicht beachten, ich richte ihn nicht! Denn ich kam nicht, die
Welt zu richten, sondern zu retten. Wer mich nicht annimmt, der
hat den Richter schon in sich
: der Sinn, aus dem ich lehre,
der richtet ihn bis zum fernsten Tag.« Denn dieser Vernunftsinn
(Logos) trägt in sich eine Vollkommenheitslogik, und wer von ihr ab-
fällt, der schämt und ängstigt sich vor sich selber. »Die Menschheit
(Menschensohn) soll gelten. Wenn das Weizenkorn starb, trägt es
viele Früchte. Das Einzelne soll sich verlieren ins Allgemeine. Er, der grosse
Erlöser, wird dahinschwinden, aber die Seinen wissen nun den Weg.
Und er wird immer wiederkommen. Und einen Anwalt wird der
Vater im All euch geben (nicht einen »Tröster«, wie Luther übersetzt):
»Den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht fassen kann, ihr aber
kennt ihn, weil er in euch ist.« »Wer immer mich liebt, wird geliebt
von meinem All-Vater, und ich werde ihn wiederlieben und ihm mich
deutlich machen.« Wir werden zum tiefsten Urgrund, zum Vater, kommen
und bei ihm wohnen; denn der Anwalt, der Geist der Wahrheit, den
der Vater, wenn Jesus nicht mehr ist, »senden wird in meinem
Namen
« — (Jesus hat sich nicht getäuscht!) —, »der wird euch
Alles lehren und euch an Alles erinnern
.« (Der Geist der
Wahrheit von Paulus zu Giordano Bruno und Kepler und Newton und
Kant und Darwin.) »Den Frieden aber lasse ich euch, ich gebe euch
meinen Frieden.« »Liebet ihr mich, so freutet ihr euch, dass ich zum
Vater wandere (ins All aufgehe), denn der Vater ist ja grösser als ich.«
Es folgt hier im Johannes eine dunkle Stelle, die durch Kirchbach’s
Uebersetzung nicht klarer wird und die er ohne Commentar gibt: »Es
kommt der Herrscher der Welt, und er hat an mir gar nichts.« Luther
hatte übersetzt: »Es kommt der Fürst dieser Welt«, und dies könnte

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 846, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0846.html)