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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 845

Text

WAS LEHRTE JESUS? 845

wird überhand nehmen und die Liebe in Vielem erkalten und eine
schreckliche Revolution anbricht, auf deren Trümmern der Menschen-
sohn erscheint: »nicht nur in der Wüste und der Kammer, sondern
überall wird der Menschensohn sein, gleich wie der Blitz von Auf-
gang bis Niedergang zuckt.« Woher aber diese Erfüllung, Erleuchtung,
Ausgiessung des Geistes stammt, davor setzt Jesus ein Ignorabimus:
»Der Wind weht, man hört sein Wehen und weiss doch nicht, woher
er kommt, und wohin er führt.« Mit staunenswürdiger Festigkeit will
aber Jesus nur »reden von dem, was wir wissen«, d. h. vom All um uns
und in uns. »Denn keiner stieg zu Himmelsdingen auf, es sei denn,
er stieg vorher vom Himmel herab, nämlich der Mensch.« Das heisst:
Erst wer auf der Erde wurzelte in dem, was wir wissen und sehen,
kann sich über die Erde zu Allgefühlen aufschwingen. Mit fort-
reissendem Heldenwillen zieht er daraus den Schluss: »Und wie Moses
die Schlange in der Wüste erhöhte, so muss die Menschheit empor-
gehoben werden!!« Hat man je Gewaltigeres vernommen? »Damit
Alle die Menschheit hochhalten, wie sie den Allvater hochhalten! Wer
den Menschensohn nicht hochhält
, der ehrt auch nicht
den Vater
, der ihn schickt.« Wie sieht nun die ekle Herab-
würdigung des »sündigen« Menschenthums aus, womit das bevor-
mundende System von jeher seinen Spuk trieb! Wenn Schiller und
Rousseau singen: »Der Mensch ist frei geboren, ist frei«, so klingt’s
nur wie ein schwacher Nachhall der stolzen Jesuslehre, dass wir
»Gottes Söhne« sind. »Denn wie der Vater (das All) in sich Leben
hat, so verlieh er auch dem Entstandenen Leben und Freiheit, weil
er Menschensohn ist.« »Von mir selbst aus vermag ich gar nichts; ich
richte, wie ich höre, und mein Urtheil ist gerecht, aber nur, weil ich
nicht meinen Willen, sondern den Willen dessen suche, der mich
gesandt hat.« (Der Geist der Wahrheit.) »Wie könnt ihr Vertrauen
haben, da ihr voneinander Glauben annehmt (wie kirchliche
Religiosität), aber den Glauben nicht sucht, der von dem Ewigen
kommt?« Was hülfe alle Todtenerweckung und aller Spiritismus für
Solche, die nicht auch ohne solche Schreckmittel das Sittengesetz be-
gründen können? »Hören sie Moses und die Propheten nicht, so
werden sie sich auch nicht überzeugen, selbst wenn einer von den
Todten auferstünde!« All diese Wunder und Zeichen sind sinnlicher
Trug, die wahre Wahrheit ist nicht mit Händen zu fassen. »Der Geist
ist das Lebenschaffende, die Materie vermag nichts: Meine Lehre das
ist Geist und Leben.« In tiefer Wehmuth, seines nahen Endes gewiss,
sagt er beim blutlosen Trankopfer des Abendmahlsbundes, das so
gröblich als mythisches Sühneblut missverstanden wurde: »Ich werde
nicht mehr trinken von diesem Wein, bis ich ihn neu trinke durch
euch in der Herrschaft des Alls.« Dass er aber Wahrheit rede, dafür
appellirt er an einfache Logik: »Meine Lehre ist nicht mein, sondern
dessen, der mich sandte. Wenn Jemand nun des Letzteren Willen thun
will, der wird bald inne werden, ob diese Lehre von Gott sei oder
bloss von mir!« »Es ist ein Wahrhaftiger, der mich sandte, den ihr

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 845, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0845.html)