Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 844

Text

844 BLEIBTREU.

Welt«, ist nach späterer christlicher Auffassung einfach der Teufel; für
Jesus aber sind solche weltliche Erbärmlichkeiten einfach nicht vor-
handen, und deutlich genug gibt er, Matthäus 17, 26, zu verstehen,
dass er keineswegs den Zinsgroschen (Steuer) für gerecht und billig
hielt. Wie völlig unpersönlich Jesus sich als Menschheitsvertreter
fühlt, zeigt ja sein Gleichniss vom Gericht der Erfüllung, Cap. 26
Matthäi, worin er zweimal, um genau verstanden zu werden, seine Sätze
wiederholt: »Ich« bin nicht Ich, sondern was ihr dem Geringsten Gutes
oder Böses thatet, das habt ihr mir gethan.

Das Unverständniss der Jünger selber für die Seelenoffenbarungen
Jesu geht aus vielen Stellen des historischen Evangelienberichtes hervor,
ihre Fragen verrathen oft kindliche Naivetät. Was Lord Byron von
einem seiner Helden singt, liess sich richtiger auf den göttlichen
Nazarener beziehen: »Ein Fremdling stand er in des Lebens Frohn,
ein höherer Geist aus licht’rer Region.« Stets verbat er sich, mit dem
jüdischen Messias aus dem Hause David verwechselt zu werden: »Und
er bedrohete die Jünger, dass sie so etwas Niemand sagen sollten.«
Nicht »Du sagest es«, erwidert er auf die Frage, ob er der Judenkönig
sei, sondern richtig übersetzt: »Das sagst du«, also eine Ablehnung.
Der »Menschensohn« bedeutet nur bildlich die Menschheit im Allge-
meinen, das »Himmelreich« kein anthropomorphisches Walhalla, sondern
er sprach von den Himmeln im Plural, von der »Macht des
Alls« und vom »Vater im All«. Nicht die »geistig Armen« preist die
Bergpredigt, sondern »die Bettler um Geist« (die nach Geist hungern).
Wer Geist sucht, sucht Gott, der nur Geist ist. Das Gleichniss von den
verliehenen »Pfunden« lehrt, dass jeder Arbeiter im Weinberg Gottes
seines Lohnes werth ist, gemäss seinen Fähigkeiten und seinem guten
Willen zur Erkenntniss. Nur wer gar nicht arbeitet, wer gar nichts »hat«
an sittlichen Werthen, der ist zu geistigem Bankerott verdammt.

Das ist scheinbar hart und zeigt so recht, wie weit Jesus, der
zornige Geisselschwinger im Tempel, von weinerlichem Humanitätsdusel
entfernt war; aber es ist wahr. Es gibt solche Unglückliche in allen
Ständen, vom Cäsar bis zum Gewohnheitsverbrecher, deren ethisch
dumpfer Sinn niemals reagirt, wenn man an selbstlose Menschlichkeit
mahnt, der seine bankbrüchige Moral höchstens mit heuchlerischen
Tiraden betrügt und nur sein grössenwahnsinniges, nichtiges Ich füttert.
Bei ihnen erlischt auch noch das wenige Gute, was sie hatten. Man
sieht: was dunkel schien, wird klar, wenn wir Jesum recht zu lesen
wissen. Rangunterschiede bei der immerhin so verschiedenen Ver-
theilung der Geistesgaben gibt es nicht im Gottesreich; deshalb
wäscht Jesus seinen Jüngern die Füsse, um dies recht anschaulich zu
verdeutlichen. Das ist nicht Sclavenmoral, sondern echte Herrenmoral,
Heldenmoral, die das Ungleiche durch gegenseitiges Dienen zu
ebenmässigem Ganzen vereint, sintemal es ihr nicht um das winzige
Herrenthum ihrer Person, sondern um die Herrschaft des Alls, sozusagen
das ganze Vaterland (des Vaters im All) zu thun ist. Bis dass die
Zeit erfüllet ist, von der Jesus weissagt, wenn die Ungerechtigkeit

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 844, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0844.html)