Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 843
Was lehrte Jesus? (Bleibtreu, Carl)
Text
Von Carl Bleibtreu (Berlin).
Das Werk »Was lehrte Jesus?« von Wolfgang Kirchbach (Dümmler’s
Verlag, 1897) wird zweifellos eine Bewegung in weiten Kreisen schaffen.
Indem er die fehlerhafte, oft geradezu sinnlose Uebersetzung Luther’s
mit dem griechischen Urtext der Evangelien vergleicht und letztere
wiederum von legendären Zusätzen reinigt, schält Kirchbach eine syste-
matische Erkenntnisstheorie Jesu heraus, die durchaus modernstem Em-
pfinden entspricht. In seinem richtigen Bestreben, überall das Mystische
abzustreifen, scheint mir der geehrte Verfasser hier und da zwar etwas
rationalistisch zu wirthschaften. Vielleicht geht er auch zu weit darin,
dass Jesus jede »persönliche« Seelenunsterblichkeit abgelehnt und das
»ewige Leben« schlechterdings nur auf die Ewigkeit des Menschheits-
ideals bezogen habe. Fest steht, dass er unter »Seligkeit« durchaus die
diesseitige Befriedigung der Sittlichkeitsaffecte verstand und die »Auf-
erstehung« auf die moralische Wiedergeburt der geläuterten Sinnes-
änderung bezog, ebenso dass er »Wunder« und Zeichen geradezu ver-
warf. In dieser gereinigten Form bildet die Lehre Jesu zweifellos den
höchsten Gipfel des Denkerthums wie der Ethik. Es sollte uns aber
nicht wundern, wenn nicht nur Rom dies herrliche Buch auf den Index
setzen, sondern auch ein Staatsanwältlein dawider im Namen Christi
Einspruch erheben würde. Im Lande der »vernagelten Weltliteratur«
— man kennt ja dies köstliche geflügelte Wort — können alle die,
so im Geiste Jesu von Nazareth leben und weben, sich auf Verfolgung
des »christlichen« Staates gefasst machen.
Dass Jesus jede »Göttlichkeit« von sich ablehnte, sprach er doch
überall deutlich aus: »Was nennest du mich gut? Niemand ist gut
denn der einige Gott.« (Was Kirchbach leider nicht citirt.) »Das Sitzen
zu meiner Rechten und zu meiner Linken zu verleihen, steht mir
nicht zu, sondern denen gehört es, denen der Vater im All es zu-
bereitet hat.« Aehnlich sagt ja schon Buddha, dass Jeder sich selbst
erlösen müsse. »Der Menschensohn kam nicht, dass er sich dienen
lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zur Erlösung für
Viele.« (Nicht für »Alle«, die ihn »Herr, Herr« nennen, sondern die,
welche seine Lehre begreifen.) Aber die Schalksnarren lesen aus klaren
Worten heraus, was ihnen passt. Auch in einigen Dingen, die Kirchbach
vergass. So hat das berühmte »Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist,
und Gotte, was Gottes ist«, wobei sich die erhabene Lippe in unaus-
sprechlicher Verachtung krümmte, natürlich einen ganz anderen Sinn,
als man opportunistisch hineinlegt. Denn der Cäsar, »der Fürst dieser
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 843, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0843.html)