Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 850
Was lehrte Jesus? Notturno de Chopin (Bleibtreu, CarlPerzynski, Friedrich)
Text
Vorstellungsfähigkeit wirkt. Dem Kind lebt Alles, Märchen sind ihm
Wahrheit, die nüchternen scheinbaren Schranken der Materie blenden
es nicht, es schaut »allezeit das Antlitz meines Vaters im All«. Diese
All-Herrschaft aber, sagt Jesus zum andernmal, kommt nicht mit Anzeichen
für die Sinne, nicht hier oder dort, sondern sie ist inwendig in uns.
Das ist der wahre Uebermensch, nach dem Nietzsche sucht. Nicht
auf ein Jenseits vertröstet die Bergpredigt, die überhaupt nicht von
Zukunft redet: »Selig sind die Barmherzigen, denn sie finden in sich
selbst Erbarmen. Selig, die reinen Herzens sind, denn sie schauen
Gott in sich selbst. Selig sind, die man um der Gerechtigkeit willen
verfolgt, denn ihnen gehört die Herrschaft des Alls.« Hiedurch erhält
auch die Nächstenliebe und das Tatwamasi der Inder eine richtigere
Fassung. Was du dem Nächsten thust, kommt zwar nicht dir selbst
zugute, wohl aber der Gesammtmenschheit. Daher auch die wundervolle
Begründung: »Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebet euch unter-
einander, weil ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander liebet.«
Die Liebe ist also ganz um ihrer selbst willen da.
NOTTURNO DE CHOPIN.
Traumschwer und abseits fliesst ein Menschenleben
In tausend Qualen, ohne Mitleid, hin,
Und nur zuweilen regt ein wildes Beben
Mit Allgewalt den scheuen Sclavensinn.
Ein Schrei der Wuth, vom Wahnsinn eingegeben,
Gellt zu der Welt, der grossen Herrscherin.
Doch er verhallt. — Im Auf- und Niederschweben
Der Tagesfluth hört nur der Tod auf ihn.
Charlottenburg. Friedrich Perzynski.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 850, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0850.html)