Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 851
Text
Von Rudolf Strauss (Wien).
Anton Tschechow ist im Kreise der Wissenden lange bekannt. In
Russland, seiner Heimat, ist er trotz seiner Jugend — er wurde 1862
geboren — seit manchem Jahr berühmt. Gleich schon sein erster Skizzen-
band hat mächtig dort gewirkt, und nun zählt er zu denen, die stolz
die Hoffnung ihres Landes heissen. Seine dramatischen Versuche (»Iwanow«,
»Die Möve«) sind sämmtlich zwar missglückt — als Novellist jedoch
tritt er von allem Anbeginn mit einer Sicherheit und suggestiven Stärke
auf, die alle Geister ihm gewinnt.
Er steht zunächst durchaus auf nationalem Boden. Mit der ihm
eignen Heftigkeit und feinen Wucht trifft er die stillen Bilder seines
weiten Vaterreichs, die russischen Tage und die russischen Nächte, die
russischen Landschaften und die russischen Menschen. Schwere Schatten
lasten, den nordischen Nebeln gleich, auf allen diesen Gestalten, ein
dunkler Druck presst sie herab, und jede Sonne fehlt
Wie in der Malerei, so gibt es auch in der Literatur Coloristen
und Zeichner: Der Farben Prunk ist Anton Tschechow versagt; doch
was er grau in grau mit einem leisen Flug von Pessimismus in diesen
wundervollen Novelletten auf das Papier gezaubert hat, das haben nur
die wenigsten, die besten seiner schreibenden Landsleute bisher ver-
mocht. Er knüpft hier ganz direct an Gogol oder Dostojewsky an. Mit
seinem dünnen, scharfen Stifte hat er die Typen seines Volks, den
Schwärmer, den Verzweifelten, den Bauer wie den Polizisten, den
Adeligen wie den Uebelthäter, so plastisch vor uns hingestellt, dass wir
die starre Monotonie dieses russischen Lebens schwinden und tausend
intime Nuancen hell vor uns aufleuchten sehen.
Ein Beispiel möge das beweisen.
»Wenn ein russischer Mensch an Gott nicht glaubt, so ist damit
gesagt, dass er an etwas Andres glaubt,« heisst es an einer Stelle der
Geschichte. Irgend ein System, sei es nun wahr, sei es falsch, irgend
eine Lehre wird dann sein Bekenntniss. Fanatiker und Eifrer der
Idee — nirgend gedeihen sie deshalb so gut und nirgend üppiger
als hier. Auch Anton Tschechow hat uns einen vorgeführt, einen be-
zaubernden, verführerischen Apostel, mit einer zwingenden Beredsamkeit,
mit einer bethörenden Macht ohnegleichen In einer ländlichen
Herberge, »Unterwegs«,1) begegnen sich zwei unbekannte Menschen. Ein
Gespräch spinnt sich an, und er erzählt. Er erzählt mit heissen,
schlichten, dringenden Worten sein ganzes verfehltes, verhofftes Leben.
Er war ein Sclave jeder Wissenschaft — und ward enttäuscht. Er war
1) Philipp Reclam, Leipzig.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 851, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0851.html)