Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 852

Anton Tschechow (Strauss, Rudolf)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 852

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852 STRAUSS.

nun Nihilist — und ward enttäuscht. Er war dann Slavophil — und
ward enttäuscht. Er begeisterte sich für Thaten, Gedanken, Menschen,
Leidenschaften — und ward nur immer wieder enttäuscht. Sein Gut,
sein Glück hat er den glühenden Ekstasen hingeopfert; sie aufzugeben
— dazu besass er nicht die Kraft, besass er nicht den Muth. Alle
Möglichkeiten dieser so reichen, ruhelosen russischen Seele tauchen
hier schillernd einen Augenblick empor, glitzern und blenden und gehen
dann im weiten Meer der Finsterniss, die über diese trüben Lande
fluthet, spurlos, verwundet, verkümmert zu Grund

Doch Anton Tschechow’s Meisterschaft, sie hat in diesen ersten
Skizzen eine Grenze. Sie kannte das russische Leben, den russi-
schen Geist, allein die Kämpfe der Welt, der ringenden Welt der
Geister, ihre Niederlagen und ihre Erfolge, ihre Qualen und ihre Triumphe,
sie blieben ihr fremd.

Mälig dann hat sich sein Blick geweitet. Von Russland fort
schweift er jetzt suchend und sehnend über ganz Europa. Was immer
er dort schaut, das prüft er und besieht er forschend, und wenn die
Mühe lohnt, dann rafft er es energisch auf. So wird er aus einem
engen, nationalen ein weiter, europäischer, weltweiser Literat. Von der
Weichheit des Nordens, von seinen verdämmernden Nebeln, von der
dunklen Melancholie seiner endlosen Steppen — von alledem wird
man bei Anton Tschechow jetzt nur sehr wenig noch entdecken. Nicht an
Tolstoi, den Lehrsamen, nicht an Turgenjew, den Sanften, überhaupt nicht an
einen Russen schliesst er sich an — Darwin und Nietzsche, Strindberg
und Maupassant, das sind nun seine Quellen. Er wurde Arzt und mit
der Wissenschaft vertraut, und eine feine, letzte, höchst complicirte
Cultur glänzt so aus seinen neuen Werken. Russen, echte Russen
durch europäische Ideen zu bewegen, in Conflicte
ge-
rathen und aufeinander prallen zu lassen, das ist das
scharfe Signum seiner späten Kunst, das ihm das Interesse seines Volks
verbürgt und auch das Interesse aller Europäer.

»Im Zweikampf«1) zum Beispiel, den uns Korfiz Holm so
wundervoll verdeutschte, hat er die Lehre von der Herrenmenschen-
züchtung, vom scrupellosen Vernichten aller Lebensschwachen zum
Mittelpunkt und Stoff genommen. Zwei Männer stehen sich hier feind-
lich gegenüber, der eine stark, energisch, zweckbewusst, der andre
matt, hysterisch, der Nerven und der Sinne Spiel. »Lajewsky ist der
Gesellschaft schädlich und genau so gefährlich wie ein Cholerabacillus;
ihn zu ersäufen ist ein verdienstliches Werk,« sagt Herr von Koren
hart von ihm. Ein kühler Hass auf wissenschaftlicher, darwinistisch-
nietzscheanischer Grundlage ist gegen diesen armen, müden Mann, der
mit der Frau eines Andern ein verpfuschtes Dasein lebt, in seiner
Seele jäh entstanden. Lajewsky fühlt die stürmische Verachtung des
Gelehrten, er weicht ihm aus, er bangt vor seinem finstern Blick, unter
dem er sich windet, der ihn mit seinem düstern Glanz fast physisch


1) Albert Langen, München.

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 852, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0852.html)