Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 853
Text
an die Wand drückt und zerschmettert. Auch in ihm reckt nun ein
wilder, angstgeborner Groll gewaltsam sich empor, er bäumt sich
keuchend gegen den, der ihn durchschaut, der seine Individualität ge-
fährdet und seine Eigenart nicht gelten lassen mag. Fürchten wir den
denn nicht tiefer, der unser Selbstbewusstsein tödtet, als den,
der unsern Leib bedroht? Ein kleiner Zwischenfall bringt die
gesammelte Wuth zu tobendem Ausbruch. Lajewsky fordert; er will
ein Gottesurtheil. Aber als es schliesslich darauf ankommt, da lässt
der Muth ihn im Stich, da schiesst er verzweifelt in die Luft, indess
von Koren hart bleibt, scharf zielt und die feste Absicht hat, sein
zitterndes Opfer zu tödten. Es ist nur Zufall, wenn er fehlt. Die Frage
drängt sich jetzt gewaltsam auf: Für wen hat hier der Dichter die
Partei ergriffen, wem schenkt er seine Sympathie, wem seine Gunst
und wem sein Hassen? Aber auf diese Frage wird keine Antwort.
Jenseits von Freund- und Feindschaft steht der Dichter da, ruhig,
heiter, ironisch, mit einem leisen Spott um die dünnen, bleichen
Lippen. Dass er den Schwachen am Leben lässt, beweist nichts gegen
diesen Gleichmuth, beweist vor Allem nicht etwa die Sympathie. Ist
Herr von Koren nicht fest? Will er den Gegner nicht morden, und
ist der Wille nicht das Ausschlaggebende bei jeder That? Doch auch
auf Gegnerschaft des Autors kann man aus diesem unbeugsamen
Wunsch zu tödten niemals schliessen. Wird diesem Wunsch denn Er-
füllung? Trifft denn den Müden der Schuss? Winkt denn dem Starken
der Sieg? Nein! Anton Tschechow rückt wie Maupassant sich über
sein Milieu; nicht nur sein Stoff, auch seine Technik ist so von Grund
aus europäisch. Er leiht den Menschen seiner Werke die gleiche Wärme
stets, die gleiche Kälte; der Leser muss mit seinem Wesen für diesen,
gegen jenen sich entscheiden; der Dichter selbst bleibt kühl, bleibt
stumm und weist ihm nicht die Wege
Das zeigt sich ganz besonders auch in seiner Schilderung der Frau.
Wir leben in einer Zeit der Ueberfeinerung. Alles Derbe, Schwere,
bäuerisch Wuchtige — es ist uns tief verhasst. Die rohen Farben und
die grellen Worte, die wirbelnden Instincte und die donnernden Ge-
fühle, die tollen Gierden und die heissen Leidenschaften, sie sind uns
fremd, sie sind uns feind geworden. Wir haben statt der volks- die
blassgetönte Literatenliteratur der Symbolisten, statt einer populären
Macht die nuancirte, feine Politikerpolitik der Socialpolitiker, und statt
der schweren Liebe besitzen wir die leichte Liebelei. Der Einzelne
muss eine Periode von Frauenhass durchlitten haben, eh er zu dieser
Periode von Frauenverachtung sich weiterflüchten kann. Allein es
ist auch möglich, dass er die letztgenannte Position durchschritt und
psychisch gegenüber der Frau zu jener völligen Indifferenz gelangte,
die mit Gerechtigkeit identisch ist. Bei Anton Tschechow wenigstens
war das der Fall. Er zeichnet in seinen bunten Geschichten die Frauen,
wie er sie sah und fand, mit allem Licht und allem Schatten, mit
allem Glanz und aller Hässlichkeit. Wenn oft das Dunkle überwiegt,
so liegt das nicht an ihm: es ist die Farbe des Objects. Der Titel
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 853, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0853.html)