Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 854
Text
»Russische Liebelei«, den der Verlag1) den neuen Skizzen gab, und
der den Anklang der Verachtung weckt, war darum wohl nicht ganz
am Platze. Zwar finden sich die Spuren der Entwicklung deutlich in
dem Werke, hier hasst der Dichter noch, dort sieht er auf die Frauen
noch herab, doch in der letzten Form und in der vollsten Breitung
seines Wesens hat er die niedern Stufen glücklich überwunden, der
süssen Lockung »Hass-Verachtung« gern entsagt.
Wird man mir glauben, wenn man dann diese Worte liest, die
sich in der Novelle »Ariadne« finden?: »Kaum sind wir verheiratet
oder treten in intimere Beziehungen zu einer Frau, so fühlen wir uns
schon betrogen und enttäuscht. Wir überzeugen uns davon, dass die Frauen
verlogen, kleinlich, eitel, ungerecht, grausam und unentwickelt sind — mit
einem Worte, dass sie nicht allein nicht höher, sondern unverhältnissmässig
niedrer stehen als wir Männer.« Man mag mir gleichwohl ruhig glauben!
Denn Anton Tschechow hat es klug verstanden, der Sache jede Frauen-
feindlichkeit zu nehmen, indem er die Erzählung ganz — und speciell
auch diesen Ausspruch — dem Geiste eines Mannes zuschrieb, der eine
komische Figur, ein schwacher, lächerlicher Schwätzer ist
Beyle meinte einst in einem Briefe: »Jeder Tag, an dem ich mich
erzürne, ist für mich verloren.« So scheint auch Tschechow sich zu
sagen: »Jedes Buch, in dem ich mich erzürne, es ist verfehlt, ver-
dorben und missglückt.« Oft fordert ihn der Stoff geradezu heraus,
sich pro, sich contra zu erklären, allein er merkt die drohende Gefahr
und weiss ihr immer zu entgehn.
Da ist z. B. die Novelle »Windbeutel«.
Sie mahnt uns indirect an Nietzsche’s Wort: »Die Frauen in-
triguiren im Stillen immer gegen die höhere Seele ihrer Männer: sie
wollen dieselbe um ihre Zukunft, zu Gunsten einer schmerzlosen, be-
haglichen Gegenwart, betrügen.« So nämlich kann es kommen, dass
gerade die mondäne oder demimondäne Frau, die ihres Gatten Dasein
kaum beachtet, dem Fluge seiner Seele unbewusst den allerbesten Vor-
schub leistet. Und eine solche Gestalt hat Anton Tschechow uns
prachtvoll und stark hier vor Augen geführt. Es ist eine Frau, die den
Duft und alle Schönheit dieses Lebens liebt und im Gefühle ihres
Nichts an jede Grösse sich fast krampfhaft klammert. Ihren Gatten,
einen Arzt, missachtet sie; er ist ihr zu wenig berühmt. Dass er ihr
jeden Wunsch erfüllt, dass er ihr Alles von den leuchtend schwarzen
Augen abliest, das kümmert sie nicht, das rührt sie nur wenig. Auf
ihrer Suche nach berühmten Menschen lässt sie ihn gänzlich ausser
Acht, schenkt alles Interesse Anderen und gibt sich schliesslich einem
jungen, aber schon bekannten Maler. Der Mann lebt still indess an
ihrer Seite hin, fast schattenhaft zart, fast schemenhaft stumm. Haben
wir bisher immer von blonden, lautlosen, häuslichen Frauen gehört, so
finden wir hier den neuen Typus des unbemerkten, bleichen, geräusch-
losen Mannes. Es ist ein rührender, ja sentimentaler, doch entschieden
dem Leben entnommner Charakter. Dinow setzt Alles daran, die
1) August Schupp, Leipzig.
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 854, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0854.html)