Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 855

Anton Tschechow (Strauss, Rudolf)

Zum TEI/XML Dokument

Faksimile

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 855

Text

ANTON TSCHECHOW. 855

Achtung seiner Frau sich zu erringen. Er müht sich unablässig, endlich
anerkannt zu werden; in der schweren Einsamkeit seiner düsteren
Nächte schreibt er ein werthvolles, wissenschaftliches Werk, und in der
nächsten Zeit soll er Professor werden: das Ewig-Weibliche zieht ihn
hinan. Aber dann, als er sein Ziel fast schon erreicht, durchschaut er
plötzlich seiner Gattin Schuld, und nun ist dieser stille Mann des
Lebens müde: bei einem Diphtheritiskranken steckt er sich tödtlich an.
That er’s mit Absicht? War es Zufall? Anton Tschechow lässt die
Frage offen. — Von ihrem Maler brüsk verlassen, in allen Wünschen arg
getäuscht, weint Olga Iwanowna an ihres Gatten Sterbebett. Aber völlig
bricht sie erst zusammen, als sie von seinen Freunden jetzt erfahren muss,
dass dieser unscheinbare Todte die stolze Leuchte seines Fachs und auf
dem besten Wege war, ein weltberühmter Mann zu werden. Die wahre
Grösse, die stumm und mälig an ihrer Seite sich entwickelte, die wahre
Grösse hat sie nicht erkannt. So war der Tod die stärkste Rache des
Verrathenen: die Ueberlebende mag nun ein ewiges Bedauern quälen.

Kann es nun denkbar sein, dass selbst auch diese Skizze, die
doch die ungetreuste Frau uns zeigt, dass selbst auch diese nicht die
Impression der Frauenfeindschaft hinterlässt, dass selbst auch diese
noch den Eindruck vollster Objectivität erzielt? Nun, Anton Tschechow
hat die That gewirkt, dadurch gewirkt, dass er nach Nietzsche’schem
Recept die Handlungen der Frau missbilligt, aber die Gründe, die
Motive dieser Handlungen grossmüthig ehrt. Olga Iwanowna ist eine
Dichternatur, die allem Glanz und Licht entgegenstrebt und allem
Schimmer bebend folgt. Aus diesem Künstlertrieb, der sie der Wirk-
lichkeit entrückt, hat sie gefehlt; aus dieser schönen Sehnsucht nach
der Grösse, aus dieser reinen Liebe für das Hohe hat sie dem stolzen
Fremden sich ergeben. So ist das Gleichgewicht denn wunderbar ge-
wonnen, Dunkel und Helle prachtvoll vertheilt. Das Unwahrscheinliche,
hier ward’s Ereigniss: wir erleben das mächtige, geheimnissvolle Wunder
Strindberg’schen Inhaltes in Maupassant’scher Form; eine sublime
Mischung sehen wir, die fast undenkbar schien, die keinem noch bisher
gelang: wir liebten Strindberg und wir liebten Maupassant, so lieben
wir denn Anton Tschechow doppelt.

Sein Ruhm wird binnen Kurzem die Welt erfüllen. Er ist das
glänzendste Beispiel eines internationalen Künstlers an der Wende dieses
müden Jahrhunderts. Zwar wurzelt er tief in seinem Volke, aber er
hat kühne Streifzüge nach allen Richtungen der Literatur unternommen,
und mit Prunk und Schätzen schwer befrachtet, ist er gar reich zurück-
gekehrt. Stolz und gross ragt er empor, in einer goldigen, leuchtenden
Rüstung, und wir, wir wissen wohl, woher er sie geholt; allein wir
blicken doch erstaunt, ja neidend fast auf diese ungezähmte Wucht
und Kraft, mit der er sie so spielend leicht erträgt. Man muss ge-
waltige, michelangeleske Glieder, man muss gestählte, eisenharte Muskeln
und eine durch und durch gesunde Kampfnatur besitzen, sonst kann
man in dem fremden Kettenpanzer so mühlos nicht und nicht so
schwebend schreiten.


Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 855, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0855.html)