Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 860

Zum Umbau Wiens (Schmidkunz, Dr. Hans)

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Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 860

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860 SCHMIDKUNZ.

oder dass sie dies wenigstens nur in der geringstmöglichen Zahl, am
besten aber mit einer »seitlichen Verschiebung« thun sollen: diesen
Satz könnte man aus den bisherigen Erfahrungen und Erwägungen
über Städtebau doch schon gewonnen haben.

Aber wie auch immer; jedenfalls bedarf ein Stadtplan einiger
grosser, ausgiebiger und leicht orientirender Hauptzüge und bedarf
speciell einiger gründlich durchgeführter Radialzüge, denen zulieb
manche Bedenken der Massigkeit und des Einerseits—Andrerseits fallen
können. Die Nebenzüge, das ganze Netz der an zweiter oder sonstiger
Stelle kommenden Verbindungen ist allerdings nicht gleichgiltig. Da-
rüber lässt sich wenig Allgemeines sagen; jedenfalls aber dies, dass
ein solches Netz nicht wieder aus Strassen von einer Breite, Gerad-
heit, Regelmässigkeit und anscheinender Prächtigkeit bestehen soll,
wie sie bei Hauptverkehrsadern zwischen zwei wichtigen Punkten passend
oder wenigstens erträglich sind. Unglücksbeispiel: das sogenannte Rath-
hausviertel und wohl auch die sogenannte Donaustadt.

Was sonst noch die künstlerischen Stimmen Wiens zu Ver-
wahrungen gegen die amtlichen Entwürfe berechtigt haben mag, müsste
noch im Einzelnen durchgenommen werden. Aber die Eine dabei auf-
getauchte Besorgniss sei auch hier getheilt: die vor einer recht be-
denklichen Lösung der Fragen nach den städtischen Plätzen. Wien
besitzt eine Anzahl ganz prachtvoller Plätze, darunter den Mehlmarkt
und den platzähnlichen Raum vor der Karlskirche; unter ihnen ist
jener bereits »verschandelt« und dieser einem gleichen Schicksal an-
heimgestellt. Wien besitzt aber auch eine Anzahl recht verunglückter
Plätze, und zwar gerade inmitten seines höchsten modernen Stolzes,
d. i. der Monumentalbauten vom Justizpalast bis zur Votivkirche;
darunter den Rathhausplatz, mit dessen 90.000 Quadratmetern man
den »Record« des vielleicht zweitgrössten Stadtplatzes der Welt (nächst
dem Königsplatz in Berlin) erreicht hat. Vor fast schon einem Jahr-
zehnt hat C. Sitte gezeigt, wie verfehlt diese Plätze an der Ringstrasse
sind, und wie sie, zumal der vor der Votivkirche, auszugestalten wären;
— das letztere Problem ist uns zugleich als Anregung und Erleichte-
rung einer Radialavenue zum Cottage und einer nach Dornbach (die
seinerzeit vom Architekten Hudetz projectirt war) willkommen. Allein
darum scheint sich nunmehr Niemand zu kümmern — trotz der
ständigen Platznoth für Denkmäler, trotz der künstlerischen Einbusse
der Monumentalbauten auf diesen Plätzen, analog dem nach unserer
unmassgeblichen Meinung jetzt ebenfalls zu sehr frei gestellten Kölner
Dom, und trotz des musterhaften Vorbildes der Plätze zwischen den
Museen und den Flügeln der neuen Burg.

Nach alledem wird vorläufig wohl nichts Anderes zu thun sein,
als das sogenannte öffentliche Bewusstsein in diesen Dingen über seine
bisherigen Vorurtheile hinauszuheben und zu einer Einsicht in die
Grundsätze eines künstlerischen Städtebaus zu führen. Wir müssen
einsehn lernen, dass die Jagd nach möglichst hohen Zahlen für Platz-
grössen, Strassenbreiten und in gerader Richtung auch Strassenlängen

Zitiervorschlag

Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 860, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0860.html)