Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 859
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inneren Stadt und den äusseren Theilen durch grosse »Radialstrassen«
herzustellen, für die nicht »Durchzüge«, sondern nur gründliche »Durch-
brüche« genügen. Als Hauptbeispiel erschien und wurde wiederholt
(noch zuletzt im Juni 1897) zum grossen Aerger der amtlichen Partei
empfohlen das Project von Alfred Riehl, eine grossartige gerade
und breite Avennue zu schaffen, die mit Benützung der einzigen schon
vorhandenen geraden Radialstrasse, nämlich der Praterstrasse, und ver-
mittelst eines jedenfalls überhaupt zweckmässigen Durchbruchs im
Nordosten der inneren Stadt den (rückwärtigen) Stephansplatz mit dem
Praterstern verbindet. Eine breite Canalbrücke soll zugleich die Tabor-
strasse aufnehmen und stadtseitig auf einen monumentalen Platz führen,
in den zugleich andere gewaltige Strassen einmünden. Vom Stephans-
platz ein Blick über den Tegetthoff in den Prater und das Marchfeld,
und umgekehrt von dort ein Blick zum Dom!
Dieser Entwurf hat so viel von dem in sich, was all unserer
Kunst so sehr fehlt, nämlich von dem »Zug ins Grosse«, und bricht
dem Gedanken des Radialverkehrs so freie Bahn, dass auch wir uns
seiner hoffnungslosen Befürwortung anschliessen wollen — trotz unserer
folgenden Bedenken, oder sogar gerade damit über sie die künftige
Erfahrung entscheiden könnte. Wir vermögen nun einmal die Begeiste-
rung für die geraden, breiten Strassen nicht zu theilen: weder aus
künstlerischen Gründen, noch aus hygienischen und verkehrspraktischen.
Allein das wäre kaum die Hauptsache. Mag der etwaige Erbauer diesen
Bedenken durch eine mässige Krümmung der Strasse und durch eine
Beschränkung auf die Breite von vielleicht 30 m (wohl dem
Aeussersten, wofür noch Gründe vorliegen dürften) nachgeben, oder
mögen hinwider die Gegner von Allem absehen, was Principienreiterei
sein könnte: es liegen schwerere Bedenken vor.
Erstens soll eine solche Radialstrasse allen Verkehr zwischen
den beiden Endgebieten aufnehmen und würde auch wahrscheinlich
daraufhin mit aller Ringstrassenpracht angelegt werden. Allein eine
derartige Belastung je Einer Strasse dürfte eben zu den Fehlern der
bisherigen Stadtbauregeln gehören; sie führt — wenn wir von dem
heikein Streit über Kunstgeschmack diesmal ganz absehen — leicht
zu erst recht schlimmen Schwierigkeiten des Verkehrs, zu Gesundheits-
schädigungen und sogar zu Lebensgefahren; eine Erkenntniss, die wohl
auch zu dem Project jener 5 und 6 parallelen Strassengeschwister in
der inneren Stadt mitgeholfen haben mag. Aber zweitens gelten diese
Bedenken ganz besonders jenem Monumentalplatz an der projectirten
Canalbrücke. Wenn wir die vorliegenden Berichte nicht missdeuten,
sollte es ein »Sternplatz« mit acht Strahlen werden. Nun sind die Stern-
plätze wieder eines der beliebtesten Ideale des bisherigen Städtebaues
und zugleich eines seiner unglücklichsten und unheilvollsten, geradezu
lebensgefährlichsten. Man rechne einmal an der Hand von Sitte’s
»Städtebau« aus, wie viele Wagenbegegnungen auf einem solchen
Sternplatz drohen, wenn diese Zahl schon bei einem vierstrahligen
Platz 12 ist! Dass Strassen nicht einander gegenüber münden sollen,
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 22, S. 859, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-22_n0859.html)