Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 867
Text
schlossener Stolz über seinem hohen, schmalen Antlitz mit dem spitzen
Bart, bei seinem ersten Worte aber schmilzt er in eine weibliche
Weichheit hin. Es ist, als hätte ein Weib in ihm Platz genommen und
ihn zu ihrem Bilde umgeformt.
Ich habe ihn gesehen, wie er dann zuweilen den Kopf erhebt
und halb abwesend auf den Regen horcht, der ewig, ewig mein grosses
Fenster peitscht, das nach dem Westen liegt, wo zuerst die Ebene
ist, dahinter das Meer.
Nach und nach ist es, als werde das Zimmer grösser und anders,
eine alte Chronik auf dem Bücherbrette, deren Titel ich halbbewusst
lese, wird mehr als ein Buch, halbvergessene Zeiten steigen daraus
hervor. Das Schloss ist aus Granit, der Tisch aus Eiche, das Licht
der Halle kommt von oben, schwere Wildthierfelle sind Behänge.
Dann sehe ich ihn vor mir, wie er die Lider senkt und anfängt
laut zu denken:
»Ich liebe die Nacht. Es ist, als wenn die Nacht nicht existiren
sollte. Ewig predigen sie von der Sonne und der Pracht des Tages.
Gewiss hat er Pracht für das Auge und die Sinne. Es sind aber auch
Kämmerchen in uns, in welche das Sonnenlicht nicht dringt, wohinein
sich allein die Nacht zu schleichen wagt.
Gerade dann, wenn die Anderen gegangen sind und das Ge-
schwätz plötzlich verstummt ist, und man ein Licht, das nicht ganz
hell ist, entzündet, haben Sie dann gemerkt, wie zwei für einander
reicher werden, wie sie mehr Saiten erhalten und scharf hören und
sehen? Die Sonne verdunkelt die Umrisse, aber des Nachts haben die
Dinge Persönlichkeit.
Das ist wahr, dass sie etwas Wehmüthiges hat. Aber bringt nicht
das Wehmüthige Vieles in uns hervor, was das Glück und der Sonnen-
schein nicht kennt?
Ein unendlicher Resonanceboden ist drinnen in des Dunkels
Tiefe, und Geister strömen uns daher entgegen, die von Ewigkeit
lebten und sich den Sinnen verbergen.« —
Wenn er spricht, ist es, als sähe er seine eigenen Worte vor
sich draussen in der Luft. Ich habe daran gedacht, ob er wohl immer
wie jetzt gewesen sein mag, oder ob das, was er erlebt, ihn so
gemacht hat. Es ist, als sei er dazu bestimmt, Orkane auf den Schul-
tern zu tragen, die er scheu um seinen Nacken zusammenzieht.
Es ist etwas Seltsames an ihm. Er passt so gut mit einem Herbst
zusammen, so wie dieser hier. Zuweilen kommt draussen auf der
Ebene ein seesalziger Hauch, der von weit draussen herangesegelt ist,
und der einen in neue Gedankenreihen hineinführt. Auch seine Ruhe
haben zuweilen bittere Worte gestört. Liegen Brandungen hinter ihr?
Zitiervorschlag
Wiener Rundschau: Jg. 1, Bd. 2, Nr. 23, S. 867, in: Wiener Rundschau Digital (1896–1901), herausgegeben vom Austrian Centre for Digital Humanities (ACDH), Wien 2025 (https://acdh-oeaw.github.io/wiener-rundschau-static/WR-01-02-23_n0867.html)